Raben und Elstern (Teil 2)

Als Alexander Burns, der Kurator des National Museum of Victoria in Australien eines Tages Anfang 1947 die Tagfaltersammlung seines Instituts kontrollierte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Es fehlten Dutzende, ja Hunderte von Tagfaltern in der Sammlung. Seltene Arten, seltene Formen. Wo waren sie hingekommen? Burns erinnerte sich an einen Besucher, der kürzlich in der Sammlung gearbeitet hatte und der auch in anderen australischen Museen zu Gast gewesen war. Einige Anrufe bestätigten die Befürchtung: Auch im South Australian Museum in Adelaide waren Falter abhanden gekommen, ebenso im Australian Museum in Sydney. Insgesamt fehlten 825 Exemplare im Museum Melbourne, 603 im Museum Adelaide und etwa 1.500 im Museum Sydney. Es wurde Anzeige erstattet.

Nachdem die Nachforschungen um den halben Erdball geführt hatten und Scotland Yard eingeschaltet worden war, kam es im Februar zu einer Hausdurchsuchung in dem kleinen Örtchen Farnham in Südengland. Dort wurden die meisten der gestohlenen Falter sichergestellt – aber leider waren ihre Etiketten vernichtet worden: Der Dieb hatte stattdessen eigene Etiketten mit den pseudonymen Sammlernamen „G. Purcell“ und „J B“ angebracht.

Gegen den Langfinger wurde eine Geldstrafe von lediglich 100 £ verhängt. Die australischen Museumskuratoren verbrachten Monate damit, die zurückerstatteten Exemplare zu sortieren, zu identifizieren und in ihre jeweiligen Sammlungen zurückzuordnen, was sich ohne die originalen Etiketten als schwierig erwies. Alle Tiere tragen nun ein gelbes Etikett mit dem Aufdruck „Passed through C. W. Wyatt Theft Coll.[ection] 1946-1947“.
Passed through -m7yellowColin W. Wyatt (1909-1975) aus Farnham in Surrey war ein Multitalent und er war ein Liebhaber der Berge. Umso schwerer fällt es, seine entomogripischen Verfehlungen zu verstehen – soweit ein Verständnis hier möglich ist.

Colin Wyatt als Siebenundzwanzigjähriger in Neuseeland, 1936 (aus Wyatt, Going Wild)

Colin Wyatt mit 27 Jahren in Neuseeland, 1936  (aus Wyatt, Going Wild)

Wyatt war Cambridge-Absolvent, studierte in Paris und London Malerei und hatte als Maler auch ein oder zwei Einzelausstellungen in England. Er war begeisterter Bergsteiger, Mitglied alpiner Gesellschaften in mehreren Ländern, wurde von 1931 bis 1936 dreimal britischer Meister im Skispringen und vertrat sein Land auch auf Skiweltmeisterschaften. Später lebte er als Reise-journalist, Schriftsteller, Safariführer, Fotograf und Kameramann, produzierte drei Bücher und fünf Fernsehfilme über das arktische Kanada, Kaschmir, Nepal, Iran und Afghanistan. Darüber hinaus war er als Weinliebhaber (er bevorzugte deutsche Weißweine) und Hobbykoch bekannt. Und er war ein kompetenter, kenntnisreicher Lepidopterologe.

In jungen Jahren von seinem naturbegeisterten Vater in die Lepidopterologie eingeführt (mit etwa sechs Jahren erhielt er ein Fangnetz und Spannbretter geschenkt) sammelte er zunächst Tag- wie Nachtfalter, bis er im Alter von 20 Jahren beschloß, sich auf Tagfalter zu spezialisieren. Es entstand eine Spezialsammlung der Tagfalter der Holarktis[1], die er auf seinen vielen Reisen und Bergexpeditionen fing. Aus seinen Ausbeuten beschrieb er zahlreiche neue Unterarten und einige Arten[2]. 1975 kam er bei einem Flugzeugabsturz in Guatemala ums Leben, nachdem er gerade im Alter von 66 Jahren den Vulkan Pacaya bestiegen hatte.

Wyatt wird als sehr sympathische, liebenswürdige und einnehmende Persönlichkeit geschildert. Und einnehmend zeigte er sich leider auch gegenüber Faltern, die ihm nicht selber gehörten, sondern in Museumssammlungen steckten.

Im 2. Weltkrieg war er in Australien, Papua-Neuguinea und auf verschiedenen Pazifikinseln als Offizier der RAAF und der Britischen Armee eingesetzt und nutzte seine Freizeit soweit möglich zum Sammeln. So wurde er in australischen Entomologenkreisen bekannt. Als er das Vertrauen von Museumskuratoren gewonnen und sich mit den Sicherheitsmaßnahmen der Museen vertraut gemacht hatte, begann er methodisch, Seltenheiten, die ihm fehlten, mitgehen zu lassen und schickte sie nach England, bevor er selber heimfuhr.

Artikel in The Argus vom 17. Februar 1947

Artikel in The Argus vom 17. Februar 1947

1949 und 1950 reiste, kletterte und sammelte Wyatt im Hohen und Mittleren Atlas in Marokko. Dann, 1952, übersiedelte er mit seiner Frau nach Kanada und nahm schließlich sogar die kanadische Staatsbürgerschaft an. Neun Jahre lang lebte Wyatt mit seiner Familie überwiegend in Kanada, unternahm auch von dort Reisen nach Zentralasien (Kaschmir, Nepal, Afghanistan) und in die kanadische Arktis und entwickelte eine umfangreiche filmerische und journalistische Tätigkeit. Über Diebstähle in kanadischen Museen ist meines Wissens nichts bekannt geworden, vielleicht weil deren Tagfalterbestände damals nicht so umfangreich waren. In Kanada und den USA hatte Wyatt einen guten Ruf.

Wyatt in den Zedernwäldern des Mittleren Atlas, Marokko, ca. 1949-1950 (aus Wyatt, Going Wild)

Colin Wyatt in den Zedernwäldern des Mittleren Atlas, Marokko, ca. 1949-1950 (aus Wyatt, Going Wild)

Im Alter von 46 Jahren veröffentlichte er seine Biographie „Going Wild. The Autobiography of a Bug-hunter“ (1955). Es ist eine grob chronologische Zusammen-stellung von Kapiteln über verschiedene Länder, die zum Teil schon vorher als Zeitschriftenbeiträge erschienen waren, mit sporadischen Angaben über Wyatts Kindheit und Jugend. Behandelt werden Reisen in Lappland, Marokko, in den Alpen und Pyrenäen, in Kanada, Ceylon, Neuseeland, Australien, Papua-Neuguinea, den Trobriand Islands und Goodenough Island. Kurz am Rande erwähnt werden Touren in Europa (Frankreich, Spanien, Albanien, Griechenland). Selbstverständlich verliert Wyatt kein Wort über seine Sammelreisen in Museen; im ganzen Buch wird kein einziges Museum erwähnt. Stattdessen betont er die Freude, die beim Aufweichen, Präparieren und Anschauen aufkommt, wenn er all die Erlebnisse beim Fang der Falter in der Erinnerung neu durchlebt:

A collection is not a mere dry-as-dust assortment of scientific specimens. I enjoy looking through my collection for the sheer beauty of the butterflies alone, but greatest, I think, is the pleasure one gets on a dull winter’s day, recalling some sunny spot in a far-off land, the warmth of the air, the scents of the flowers, adventures with strange peoples, and all the incidents of the day a particular specimen was caught.
[Eine Sammlung ist nicht einfach nur eine trockene Ansammlung wissenschaftlicher Belegstücke. Mich erfreut das Betrachten meiner Sammlung schon allein wegen der Schönheit der Falter, aber ich glaube, am größten ist die Freude, wenn man sich an einem trüben Wintertag an sonnige Plätze in fernen Ländern erinnert, an die Wärme der Luft, den Geruch der Blüten, an Abenteuer mit fremden Völkern und an all die Vorkommnisse an dem Tag, als man ein bestimmtes Exemplar gefangen hat.]

Welche Gefühle mögen ihn wohl beim Anschauen seiner geklauten Falter überkommen haben?

Ab 1961 wohnte Wyatt wieder überwiegend in England – seine Hauptsammlung war immer in Farnham geblieben. Seine intensive Reisetätigkeit behielt er unverändert bei; es ging erneut nach Afghanistan, Marokko, Spanien und auch in den Iran. Insgesamt veröffentlichte er 20 entomologische Publikationen, 13 auf deutsch, 6 auf englisch und eine auf französisch.

Viele Sammler und Naturforscher haben über besonders eindrucksvolle Faltererlebnisse geschrieben, angefangen mit dem Bericht von A. R. Wallace über die Entdeckung von Ornithoptera croesus und den bekannten „Souvenirs Entomologiques“ von Jean-Henri Fabre. Wyatt gehört schriftstellerisch nicht in dieselbe Klasse, was vielleicht auch daran liegt, daß er oft nicht in seiner Muttersprache schrieb. Sein Artikel „Unvergeßliche Erlebnisse“ berichtet über besondere Sammelerfolge und endet mit dem (einstweiligen) Höhepunkt Parnassius charltonius in Kaschmir:

Das Gehen war peinlich – meine Vibramsohlen hatten auf dem sehr steilen, feuchten Boden keinen festen Halt. Dann plötzlich schwebte mir ein riesengroßer Parnassier vors Auge und verschwand über eine Felsrippe. Herrgottsakra! Das muß bestimmt charltonius gewesen sein! Ich stolperte langsam weiter, schräg aufwärts über Steine und Löcher, die in der dicken Vegetation verborgen liegen. Dann, zehn Meter bergauf, kam mir noch ein Riesenparnassier langsam angesegelt und setzte sich irgendwo. Ich stürmte beschwerlich bergauf, keine leichte Sache bei fast 4000 m! Schweratmend, um jeden Atemzug kämpfend, sah ich um mich herum. Nichts! Und dann – bewegt sich ein Flügel auf diesem Stein? Ja! Ein rascher Blick von roten und blauen Ozellen, und das Netz schlug zum Boden. Ich habe es! Du lieber Gott! Ich habe es! Mein erster Parnassius charltonius, schönster und größter aller Parnassius-Arten!

Ich saß da, beide Hände auf den Netzring drückend, und kämpfte um Atem. Dann langsam streckte ich eine Hand hinein, faßte den Falter und zog ihn heraus. So eine Pracht! Es ist nicht zu glauben! Bin ich wach? Und doch, da bewegen sich die Fühler und Beine – es ist wahr! Ein tadelloses, taufrisches Weibchen von charltonius. Schau mal, der weiß und schwarz geringelte Leib, diese riesigen Ozellen!

Mehr kann ich nicht schreiben, es würde überflüssig. Es fiel mir noch eine ganze Menge charltonius ins Netz, aber dieser Augenblick, dieser Höchstpunkt meines Sammlerlebens, wird mir immer kristallklar bleiben, die allergrößte Perle am Faden meines Sammlergedächtnisses.
(Wyatt 1957: 52-53)

An Ausdrücken wie „ein bisserl“ oder „Herrgottsakra“ läßt sich ablesen, daß Wyatt sein Deutsch in den Alpenländern gelernt hatte.

Wyatt 1956 in Kaschmir (Wyatt 1957)

Colin Wyatt 1956 in Kaschmir (Wyatt 1957)

Sechs Jahre später war er mit Keiichi Omoto im Hindukusch unterwegs und zusammen veröffentlichten sie neben mehreren Neubeschreibungen auch einen narrativen Artikel über die Jagd nach Parnassius autocrator, der allerdings wesentlich sachlicher abgefaßt war als der über P. charltonius. Im Hinblick auf spätere Ereignisse mutet es pikant an, daß ausgerechnet Keiichi Omoto Wyatts Begleiter war, denn Professor Omoto sollte Jahrzehnte später in der Parnassius-przewalskii-Affäre eine zentrale Rolle bei der Wiederbeschaffung eines gestohlenen und weiterverkauften Unikats spielen.

Die umfangreiche Sammlung holarktischer Tagfalter, die bei Wyatts Tod über 90.000 Exemplare umfaßte, wurde von den Landessammlungen für Naturkunde in Karlsruhe[3] angekauft. Seine Ausbeuten von Australien, Neuguinea und den pazifischen Inseln hatte Wyatt schon vor Jahren an die Zoologische Staatsammlung in München abgegeben – im Tausch gegen zwei Exemplare von Parnassius loxias, einer sehr gesuchten und damals in Sammlungen äußerst selten vertretenen zentralasiatischen Art.

Seine einstigen paykullschen Verfehlungen scheint er nicht wiederholt zu haben, aber sie gerieten auch nicht vollständig in Vergessenheit. Besonders in Australien, wo das Fehlen der Originaletiketten an den „Wyatt theft collection“-Faltern immer an ihn gemahnen wird, ist er in denkbar ungünstiger Erinnerung geblieben (Moulds 1999). Dagegen fällt das Urteil eines Lepidopterologen, der ihn in späteren Jahren kannte, milder aus:

He was a lonely man, with only a few friends amongst many of his acquaintances and I found him a nice and kindly person, in his own way, during the last years of his life, when we met on many occasions at irregular intervals. The very unkind stories spread about him by those who never forgive sins of other people, probably because they think that they never sin themselves, were – so far as I am aware – exaggerated and partly untrue. (Kudrna 1981)
[Er war ein einsamer Mann mit nur wenigen Freunden unter seinen vielen Bekannten. Ich habe ihn als einen auf seine Weise netten und freundlichen Menschen kennengelernt, als ich ihm in seinen letzten Lebensjahren in unregelmäßigen Abständen bei vielen Gelegenheiten begegnet bin. Die sehr unfreundlichen Geschichten, die über ihn im Umlauf sind, werden von Leuten verbreitet, die anderen Menschen nie ihre Sünden vergeben, wahrscheinlich weil sie glauben, selber nie zu sündigen. Diese Geschichten sind – soweit ich weiß – übertrieben und zum Teil unwahr.]


Literatur

Ebert, G. (1977): Die Macrolepidopteren-Sammlungen der Landessammlungen für Naturkunde Karlsruhe und ihre Neugestaltung (2. Teil). – Beiträge zur naturkundlichen Forschung in Südwestdeutschland, 36: 247-260.

Kudrna, O. (1981): An annotated list of the butterflies named by Colin W. Wyatt (Lepidoptera: Papilionoidea, Hesperioidea). – Bonner zoologische Beiträge, 32: 221-236.

Leuschner, R. (1976): Colin Wyatt killed in plane crash. – News of the Lepidopterists‘ Society, 18: 1.

Moulds, M. S. (1999): The History of Australian Butterfly Research and Collecting. Pp. 1-24. In: Kitching, R. L., Scheermeyer, E., Jones, R. E. & Pierce, N. E. (Hrsg.): Biology of Australian Butterflies. Monographs on Australian Lepidoptera, vol. 6. – Collingwood (CSIRO Publishing). XVI + 395 S.

Wyatt, C. (1955): Going Wild. The Autobiography of a Bug-hunter. – London (Hollis & Carter). XII + 214 S., ill.

Wyatt, C. (1957): Unvergeßliche Erlebnisse. – Zeitschrift der Wiener entomologischen Gesellschaft, 42: 49-53.


[1] Unter dem zoogeographischen Begriff Holarktis versteht man die paläarktische Region (Europa, das klimatisch gemäßigte Asien und Afrika nördlich der Sahara) und die nearktische Region (Nordamerika).

[2] Wyatt war auch ein Sprachtalent. Je nach Quelle soll er vier bis sieben Sprachen fließend beherrscht haben. Eine ganze Reihe seiner Reiseberichte und auch seiner entomologischen Arbeiten sind in deutschsprachigen Zeitschriften erschienen, z.B. in der Zeitschrift der Wiener Entomologischen Gesellschaft.

[3] Heute Staatliches Museum für Naturkunde Karlsruhe.


Siehe auch
Raben und Elstern, Teil 1
Raben und Elstern, Teil 3
Raben und Elstern, Teil 4

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