Mysteriöse Arten – Was ist Peucephila essoni? (Noctuidae)

Eine neue Eulenfalterart aus Schottland? Entdeckt erst Anfang des 20. Jahrhunderts? Kann so etwas sein?

Nun, es könnte schon sein, wenn es sich nämlich um eine eingeschleppte Art aus irgendwelchen exotischen Gefilden handelte. Gerade bei Einzelfunden ist das möglich. Solche Fälle hatte es in Großbritannien des öfteren gegeben und man war sich dessen wohl bewußt.

Peucephila essoni, Holotypus. Links Oberseite, rechts Unterseite (Hampson 1909, Taf. 16)

Peucephila essoni, Holotypus.   Links Oberseite, rechts Unterseite (Hampson 1909, Taf. 16)

Am 12. Juli 1909 fing L. G. Esson bei Aberdeen einen weiblichen Eulenfalter am Köder, den er nicht bestimmen konnte. Er schickte ihn an Richard South, den Autor des zweibändigen Standardwerks „The Moths of the British Isles“. South konnte sich auch keinen Reim auf den Falter machen und gab ihn an den großen Eulenfalterspezialisten Sir George Francis Hampson am Britischen Museum weiter. Die Zugehörigkeit zur Unter-familie Hadeninae war wegen der behaarten Augen unbestritten, die weitere Einordnung unklar. Nach genauer Prüfung der äußerlichen Merkmale kam Hampson zu der Überzeugung, es müsse sich um eine neue Art und sogar um eine neue Gattung handeln und beschrieb das Tier noch im selben Jahr als Peucephila essoni. Lord Rothschild erwarb das Typusexemplar für eine nicht genannte Summe für das Britische Museum.

Der Falter war in einem Kiefernwäldchen am Stamm einer Kiefer geködert worden, und Hampson verstieg sich zu der Annahme: „its coloration irresistibly suggests that it habitually rests on the trunks of pine-trees. / Seine Färbung legt unwiderstehlich nahe, daß er gewöhnlich an Kiefernstämmen ruht.“ Selbst den Gattungsnamen entlehnte er aus diesem vermuteten Zusammenhang: πευκη (peuke) Fichte, Kiefer; φιλέιν (philein) lieben.

Peucephila essoni, Holotypus. Links Oberseite, rechts Unterseite (Hampson 1909, Taf. 16)

Peucephila essoni, Holotypus.   Links Körperbehaarung, rechts Kopf (Hampson 1909, Taf. 16)

Peucephila essoni, Holotypus. Links Oberseite, rechts Unterseite (Hampson 1909, Taf. 16)

Peucephila essoni, Holotypus.   Links Geäder, rechts Beine (Hampson 1909, Taf. 16)

Er hielt den Falter für „a development from Perigrapha and Monima (Taeniocampa), differing from both in having a dorsal series of abdominal crests and from the latter in having a sharp triangular pro-thoracic crest; from Miselia (Mamestra) it differs in having the sharp triangular prothoracic crest and its hairy scaling; in coloration it somewhat reminds one of Panolis flammea.“ Und er glaubte: „Apart from its structure there does not seem to be any British species of which it could possibly be an aberration, whilst the specimen itself has no appearance of abnormality.“ So kann das Äußere täuschen.

Hampson erwähnte zwar die Möglichkeit, daß es sich um einen Gattungshybriden zwischen „Miselia“ (das schloß damals Mamestra, Melanchra, Papestra, Lacanobia und Hecatera ein) und einer anderen Hadenine handeln könnte, hielt das aber für weniger wahrscheinlich als eine neue Art: „I conclude that the species is either indigenous or perhaps imported, probably in the egg stage on some exotic conifer. / Ich komme zu dem Schluß, daß die Art entweder einheimisch ist oder importiert wurde, wahrscheinlich im Eistadium an einem exotischen Nadelbaum.“ Hampson wurde dabei vielleicht beeinflußt durch die Aussage von Esson, die an eine Population denken ließ: „I am almost sure I saw a second specimen, but it dropped off and got in amongst the heather. / Ich bin mir fast sicher, daß ich noch ein zweites Exemplar gesehen habe, aber es ließ sich fallen und verschwand im Heidekraut.“ – – Ach, wie gut kennen wir alle diese „Eindrücke“: Ein nur undeutlich im Wegfliegen oder aus der Entfernung gesehener Falter, der anders auszusehen schien als jede andere uns bekannte Art. Man grübelt den ganzen Abend und den folgenden Tag darüber nach, was das wohl war – bestimmt etwas ganz Seltenes und Außergewöhnliches. Wir gehen am nächsten und übernächsten Abend nochmal an diesen Fundort aber natürlich taucht das Tier nicht mehr auf. Wenn wir klug sind, verlieren wir nie ein Wort darüber; wenn wir fahrlässig sind, veröffentlichen wir eine Notiz, die besagt, daß wir möglicherweise diese oder jene unwahrscheinliche Art als neu für unsere Lokalfauna oder als Wiederfund nach 150 Jahren gesehen aber leider nicht belegt haben. Und spätere Generationen müssen sich mit solchen unbrauchbaren Angaben herum-schlagen, die besser nie gedruckt worden wären.

In den Folgejahren wurde Peucephila essoni in Schottland und auch anderswo in Großbritannien eifrig gesucht, aber nicht mehr wiedergefunden. Das Belegstück im Britischen Museum blieb ein Unikat.

1920 wurde W. H. T. Tams als Nachfolger von Hampson Kurator für Nachtfalter am Britischen Museum und schaute sich den Falter an; er grübelte sieben Jahre lang und verfaßte dann einen Aufsatz, in dem er vermutete, es handele sich um ein Kreuzungsprodukt. Zuerst hatte er Panolis flammea und Orthosia gracilis als Elternarten ins Auge gefaßt, weil sie dieselbe Flugzeit haben und weil Orthosien bekanntlich gern interspezifische und selbst intergenerische Paarungen eingehen. Zu O. gracilis paßte vor allem die Punktreihe auf den Hinterflügeln. Aufgrund der deutlichen dorsalen Haarschöpfe auf dem Hinterleib von essoni, die bei keiner dieser Arten vorkommen, schloß er Panolis flammea mit Bedauern wieder aus. Beim Durchmustern der britischen Hadeninae stieß er auf zwei weitere Möglichkeiten: Ceramica pisi und Lacanobia oleracea. Die letztere schien ihm plausibler wegen besser passender Nierenmakelfärbung und Wellenlinie. Beide haben aber eine spätere Flugzeit als die Orthosien, so daß Tams annahm, ein sehr später Falter von Orthosia gracilis müsse sich mit einem frühen Tier von Lacanobia oleracea gepaart haben. Er nannte seinen Aufsatz „An interesting problem for the experimenter“ und regte an, Paarungsversuche mit diesen beiden Arten durchzuführen.

Daraufhin meldete sich L. G. Esson mit dem ernüchternden Hinweis, daß Orthosia gracilis bei Aberdeen gar nicht vorkommt, jedenfalls habe er in vierzigjähriger faunistischer Tätigkeit nie von einem Nachweis der Art in Aberdeenshire gehört.

Inzwischen hatte Tams einige Eizuchten mit Lacanobia oleracea durchgeführt und ihre Variationsbreite nochmals mit dem Peucephila-essoni-Belegstück verglichen. Dabei erkannte er, daß die Punktreihe (oder Strichleinreihe) auf den Hinterflügeln auch bei L. oleracea vorhanden ist, wo sie aber nur auf der Unterseite auffällt; auf der Oberseite geht sie gewöhnlich in der dunklen Färbung der Flügeladern unter. Es war also nicht mehr nötig, eine zweite Art für das Zustandekommen von Peucephila essoni zu postulieren: Eine außergewöhnliche Aberration von Lacanobia oleracea reichte als Erklärung aus.

Und jetzt blättern Sie nochmal nach oben zum Falterbild und überlegen Sie, ob Sie ohne Zusatz-Informationen darauf gekommen wären. Ich nicht.

Literatur

Esson, L. G. (1927): Peucephila essoni. – The entomologist, 60: 64-65.
Hampson, G. F. (1909): On a new genus and species of Noctuidae from Britain. – Transactions of the Royal entomological society of London, 1909: 461-463, Taf. 16.
South, R. (1909): A Species of the Noctuidae new to Science. – The entomologist, 42: 258.
Tams W. H. T. (1927a): Peucephila essoni: an interesting problem for the experimenter. – The entomologist, 60: 1-2.
Tams W. H. T. (1927b): A further note on Peucephila essoni Hampson. – The entomologist, 60: 245-255.
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