Lepidopterologische Lyrik, 5. Apollofalter-Seelenwanderung, mit Historie dahinter

Christian Wagner (1835-1918) ist ein heute wenig bekannter Dichter, der aber seinerzeit von Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Karl Kraus und vielen anderen hochgeschätzt wurde. Er war der Sohn eines Bauern und literarisch ein Autodidakt. In seiner Jugend hat er Schmetterlinge gesammelt und seine entomologischen Kenntnisse und Vorlieben auch in seinen Werken eingesetzt.

In dem Gedicht Auf der Burgruine verarbeitet Wagner das Schicksal des Nicodemus Frischlin (1547-1590). Frischlin, humanistischer Dichter, Dramatiker und Philologe, Professor der Poetik und Geschichte, war ein sehr begabter Mensch, der teils durch unglückliche Umstände und teils durch sein eigenes undiplomatisches Verhalten ins Unglück geriet. Im März 1590 wurde er auf der Festung Hohenurach bei Urach am Nordrand der Schwäbischen Alb eingekerkert. In der Nacht vom 29. zum 30. November desselben Jahres stürzte er bei einem Fluchtversuch ab und brach sich das Genick. (Wer mehr über ihn erfahren will: Tante Gugel kennt ihn.)

Der Apollofalter (Parnassius apollo) war in der älteren Literatur auch unter dem Namen Augenspiegel bekannt. Das war eine Verkürzung des Namens, den er 1755 von Rösel von Rosenhof erhalten hatte: „Der zu den Tagevögeln der zweyten Classe gehörige, grosse und besonders schöne, weisse Papilion mit rothen Augenspiegeln und schwarzen Flecken“. Bis ins frühe 20. Jh. war er auf den Felsen am nördlichen Rand der Schwäbischen Alb, auch bei Hohenurach, verbreitet.

Die drei erläuternden Fußnoten gehören zum Gedicht, sie stammen von Wagner selbst.

Ruine Hohenurach, von Norden gesehen. Rechts hinten ein kleiner Einblick ins Tal des Uracher Wasserfalls mit dem kesselartigen Talschluß des Rutschenfelsens, wo der Apollofalter sicher auch vorgekommen ist.


CHRISTIAN WAGNER
Auf der Burgruine
 *)

In dem Neste
Droben auf dem Fels ein Sänger  **)  lag,
Eingekerkert dort schon Jahr und Tag
Auf der Veste.

Aus dem Kerker
Brach er einst bei mitternächt’ger Weil‘,
Wollt‘ herab sich lassen an dem Seil
Von dem Erker.

Doch zerschmettert
Fanden ihn die Wächter morgens schon;
‘s war im Spätherbst, und der Buchen Kron‘
Laubentblättert. –

Aus den welken
Grauen Flechten, die sein Blut benetzt,
Sind nun aufgesproßt und blühen jetzt
Felsennelken.

Aus den Moosen,
Aus den Steinen, die sein Blut bespritzt,
Sind nun aufgesproßt und blühen itzt
Skabiosen.

Augenspiegel  ***)
Schweben um die Nelk‘ und Skabios‘,
Um die weiß und rothe Waldesros‘
Auf dem Hügel.

Augenspiegel
Schweben hier im blauen Freiheitssaal,
Blutge Tröpflein, wie ein blut’ges Mal,
Auf dem Flügel. –

Laß das Trauern!
Von des Leibes Banden ausgeschirrt,
Seine Seele nun als Falter irrt
Ob den Mauern.

*) Hohen-Urach
**) Nikodemus Frischlin † 1590
***) Der Falter Apollo

Wagner, C. (1890): Sonntagsgänge, 3. Theil: Balladen und Blumenlieder. – Stuttgart (Greiner und Pfeiffer). 141 + 3 S.


Siehe auch
Lepidopterologische Lyrik, 1
Lepidopterologische Lyrik, 2
Lepidopterologische Lyrik, 3
Lepidopterologische Lyrik, 4
Lepidopterologische Lyrik, 6
Lepidopterologische Lyrik, 7
Lepidopterologische Lyrik, 8
Lepidopterologische Lyrik, 9
Lepidopterologische Lyrik, 10
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Eine Antwort zu Lepidopterologische Lyrik, 5. Apollofalter-Seelenwanderung, mit Historie dahinter

  1. Ernst Annaheim schreibt:

    Es sind grossartige Berichte verfasst worden. Da staunt natürlich ein Schweizer Schmetterlings-
    freund. Wir haben im Mattertal (VS) im Raum St. Niklaus hört: den seltenen Leinkrautschecken-
    Falter (Mellicata deione berisalii) wieder zu Gesicht bekommen.
    Vielen Dank für die lehrreichen Stunden.
    Ernst Annaheim, Switzerland

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