OT: Erfundene Naturwissenschaftler

Ab und zu werde ich mir erlauben, Beiträge zu veröffentlichen, die nur randlich oder auch gar nicht mit Entomologie zu tun haben. Hier ist einer davon.

Es ist schon fast ein kleiner Krimi. Der New Yorker Appleton-Verlag veröffentlichte von 1887 bis 1889 die sechsbändige „Appletons’ Cyclopædia of American Biography“, ein monumentales Werk, in dem Kurzbiographien von über 20.000 Personen vorgestellt wurden, die als Entdecker, Erforscher, Politiker, Lehrer, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Militärs, Kirchenleute usw. eine Bedeutung für die Geschichte Amerikas hatten. 30 Jahre lang galt die Cyclopædia als Standard-Nachschlagewerk, bis erste Zweifel aufkamen. Der Botaniker John H. Barnhart erkannte: Mindestens 14 der in dem Werk genannten Botaniker waren offenbar frei erfunden (Barnhart 1919). Es dauerte einige Zeit, bis auch andere Fachwissenschaftler sich dem Werk mit kritischem Blick näherten. 1937 hat Margaret C. Schindler bei der systematischen Durchsicht der Anfangsbuchstaben H und V weitere erfundene Personen identifiziert, fast immer mit Bezug zu Mittel- und Südamerika und meistens aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert. Insgesamt waren das 47 Phantombiographien. Mittlerweile steht die Anzahl der erwiesenermaßen gefälschten oder im Verdacht der Fälschung stehenden Biographien bei über 200.

The writer (or writers) of these articles must have had some scientific training, for most of the creations were scientists, and sufficient linguistic knowledge to have invented or adapted titles in six languages. He was certainly familiar with the history and geography of South America. Most of the places visited by his characters are real places, and most of the historical events in which they participated are genuine. However, he sometimes made mistakes by which his fraudulent work can be detected. (Schindler 1937)
Der Verfasser dieser Artikel muß eine gewisse wissenschaftliche Ausbildung gehabt haben, denn die meisten seiner Erfindungen waren Wissenschaftler. Er muß über genügend linguistische Kenntnisse verfügt haben, um Titel in sechs verschiedenen Sprachen zu erfinden oder abzuändern. Er war auf jeden Fall mit der Geschichte und Geografie Südamerikas gut vertraut. Die meisten Orte, die seine Protagonisten besucht haben, sind reale Orte und die meisten historischen Ereignisse, an denen sie teilnahmen, sind echt. Aber er machte manchmal Fehler, durch die sein betrügerisches Werk erkannt werden kann.

Der Erfinder der Biographien beging häufig den Fehler, seinen Protagonisten eine oder mehrere bedeutende Buchveröffentlichungen, manchmal auch Zeitschriftenaufsätze zuzuschreiben. Oft waren das ihrem Titel nach so wichtige und grundlegende Werke, daß sie jeder Experte des jeweiligen Fachbereichs – ob Naturwissenschaften, Ethnologie, Erforschungsgeschichte – unbedingt kennen müßte. Dadurch hatte der Botaniker Barnhart zuerst Verdacht geschöpft. In einigen Fällen hat der Fälscher Biographien realer Persönlichkeiten zugrunde gelegt, sie mehr oder weniger stark verändert und mit einem neuen Namen versehen, in manchen Fällen hat er Buchtitel anderer Autoren geringfügig abgewandelt übernommen.

Wie groß der angerichtete Schaden ist, läßt sich nicht leicht beziffern, weil vermutlich noch nicht alle Fälschungen erkannt worden sind. Die gut durchgearbeiteten Anfangsbuchstaben G, H und I enthalten insgesamt 1.140 Artikel, von denen mindestens 43 oder 3,8 % gefälscht oder fälschungsverdächtig sind.

Warum das alles? Was war das Motiv des Fälschers? Nun, es war wie so oft das schnöde Geld. An der Cyclopædia of American Biography waren Dutzende von Autoren beteiligt; ihre Liste umfaßt mehrere Seiten. Diese Co-Autoren wurden nach der Länge ihrer Beiträge bezahlt und durften selber Vorschläge für aufzunehmende Personen machen. Dieser Verlockung konnte offenbar mindestens einer nicht widerstehen.

Leider haben es die Herausgeber nicht für nötig gehalten, bei den einzelnen Kurzbiographien jeweils den Autor anzugeben und die alten Unterlagen der Firma Appleton-Century’s existieren leider nicht mehr. So gibt es nur mehr oder weniger gut begründete Vermutungen, wer der Fälscher gewesen sein könnte. Dobson hat 1993 eine Zusammenfassung der Argumente gegeben, die Sie hier nachlesen können. Barnhart hatte den Co-Autor William Christian Tenner im Verdacht, über den es in der Liste der Autoren anstelle eines Berufs nur heißt „a graduate of the University of Paris“. Den Namen hielt Barnhart für einen Decknamen. Tenner wurde später wegen Fälschung verurteilt, allerdings hat es sich dabei um keine literarische Fälschung sondern um eine im finanziellen Bereich gehandelt (vielleicht eine Scheckfälschung oder ähnliches; die Quellen geben keine Details an). Dobson schreibt, Tenner sei von Leuten, die ihn trafen, immer für einen Franzosen gehalten worden und er wurde auch von einem der Herausgeber mit Übersetzungsarbeiten aus dem Französischen betraut. Das dürfte ihn entlasten, denn die gefälschten Artikel enthalten mehrere gravierende Fehler in den französischen Buchtiteln und Bezeichnungen. Dobson glaubt, den Schuldigen in Hermann Ritter gefunden zu haben, der ab dem dritten Band – in dem die Fälschungen beginnen – der Ressortleiter von Appletons Spanisch-Abteilung war. Ihm werden in der Autorenliste „articles on South and Central Americans“ zugeschrieben und bei dieser Expertise dürften ihm kaum derart viele gefälschte Personen aus seinem Spezialgebiet entgangen sein, wenn sie von einem anderen Autor eingereicht worden wären. Eine mögliche Zusammenarbeit Ritters mit einem der externen Autoren, ob Tenner oder jemand anderes, wäre aber nicht ausgeschlossen. Letztlich bleiben diese Verdachtsmomente weitgehend spekulativ.

Als die Gale Research Company 1968 einen Nachdruck von Appletons’ Cyclopædia of American Biography auf den Markt brachte, waren auch die gefälschten Einträge ohne Warnung, Kennzeichnung oder Kommentar darin enthalten. Später veröffentlichte Gale einen Biography and Genealogy Master Index, in dem die Cyclopædia und weitere bedeutende biographische Werke referenziert sind, und auch in diesem Index, der heute in einer Online-Version zugänglich ist (z. B. hier), finden sich immer noch alle erfundenen und mutmaßlich erfundenen Personen ohne jeden Hinweis auf ihre Fiktionalität oder Fragwürdigkeit wieder. Die Rezensionen über den Nachdruck und über den Index waren begeistert und die meisten gewöhnlichen Benutzer dieser Ressourcen dürften von den Fälschungen keine Ahnung haben.

Auch die Schreiberlinge der deutschsprachigen Wikipedia sind mehr als einmal auf die Appleton-Phantome hereingefallen, was angesichts des Funktionsprinzips der Wikipädie nicht weiter überrascht. Wikipädianer schreiben Artikel über alles, wofür es eine gedruckte und vermeintlich seriöse Quelle gibt; eigene Fach- und Sachkenntnis der Autoren ist in diesem Enzyklopädieprojekt nicht notwendig, ja nicht einmal unbedingt erwünscht. Einer dieser Wikipedia-Artikel wurde immerhin 12 Jahre nach seiner Veröffentlichung korrigiert und als fiktiv gekennzeichnet (Bernhardt Jungmann), andere stehen immer noch als vermeintlich echte Biographien in der Wikipädie (z. B. Herman Ulphilas).

Heute ist es vergleichsweise einfach, die erfundenen Personen und die angeblich von ihnen verfassten Werke im Internet zu recherchieren. Findet man nur Treffer, die auf Appletons’ Cyclopædia zurückgehen oder auf Werke, die Appleton zitieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß es sich um eine fiktive Person handelt. Früher war das nicht so leicht; man brauchte dazu gute Kenntnisse des Fachbereichs, in dem die betreffende Person tätig gewesen sein sollte. Wenn es sich dabei um Seefahrer, Navigatoren, Abenteurer oder frühe Missionare handelt, die keine gedruckten Veröffentlichungen hinterlassen haben sollen, sondern nur Erzählungen, Berichte oder Karten, die vielleicht im Original verloren gingen oder von anderen Entdeckern genutzt wurden, ist ein Nachweis der Nichtexistenz gar nicht so einfach.

Hier einige Beispiele von Einträgen über fiktive Personen:

HUDEN, Lucas Van, Flemish adventurer, b. in Ghent in 1509; d. in Araucania in 1553. He served in the expedition that conquered Venezuela in 1535, and, attaching himself to the fortunes of Valdivia, passed with him to Peru and joined Francisco Pizarro. Valdivia was instructed by the latter to conquer Chili in 1540, and Huden, following his protector, greatly distinguished himself in the subsequent campaigns. He took a prominent part in the battle of the valley of Aconcagua, and decided the issue of the action through a timely movement. When Valdivia founded the city of Santiago, in the valley of Mapocho, 12 February, 1541, Huden was made a member of the cabildo or common council, and given command of the fortress that was built upon the mountain of Santa Lucia. After the assassination of Pizarro, Huden assisted in the election of Valdivia as adelantado. He commanded the artillery which decided the victory in the battle (1541) with the powerful Indian chief Michimalonco, who had succeeded, during the action, in setting fire to Santiago. He offered afterward to go to Cuzco to re-establish communications with Peru, and bring re-enforcements. In company with Alonso de Monroy, Pedro de Miranda, and four cavalry men, he set out on a perilous journey in which his escorts met their death, and Monroy himself was made prisoner by the Indians. Returning to Santiago in September, 1543, with a vessel full of provisions, tools, and ammunition, sent by the governor of Peru, Vasca de Castro, he took part in an expedition sent by Valdivia to explore the south coast, commanded by an Italian mariner, Pastene, and Captain Geronimo de Alderete. They discovered the Chiloe islands in 1544, and advanced along the coast of Chili as far as the Strait of Magellan. Huden was a member of the council of government, appointed by Valdivia to assist his deputy, Villagra, when he left for Peru, in December, 1547, to assist President La Gasca; afterward held several commands, and was sent, in 1543, to re-enforce the fortress of Tucapel in Araucania, besieged by the Indians. The governor resolved to evacuate the fortress, but Huden opposed the plan and remained almost alone in Tucapel, where he was killed in an assault by the Indians.

KEHR, Gustav Herman (kair). German botanist, b. in Freysingen in 1581; d. in Magdeburg in 1639. He was professor in the universities of Tübingen and Halle, and afterward librarian of the Prince of Lippe-Detmold, who sent him in 1621 to America to study the plants of that country. Kehr went first to New Spain, and after several years crossed the Isthmus of Panama, and, sailing for Patagonia, studied the plants of the country that is now the Argentine Republic from 1624 till 1629, visiting afterward Chili, Brazil, and Peru. On his return he published, among other works, „De Sexu plantarum“ (Magdeburg, 1631); „Aphorismi botanicae“ (Tübingen, 1633); „Historia generalis plantarum Americanarum“ (3 vols., Halle, 1635); „Grundlehren der Anatomie und Physiologie der Pflanzen von Amerika“ (Magdeburg, 1636); „Sertum Patagonicum et florula peruviensis“ (2 vols., Dresden, 1636); „Criptogamæ Brasilienses ab Gustavius Kehr collectæ“ (Magdeburg, 1632); and „Reisen in Amerika“ (2 vols., 1639).

VOGUÉ, Jean Pierre de, Flemish adventurer, b. in Malines in 1570; d. in Brazil in 1630. He was a captain in the Spanish army when, hearing the fabulous description of the country of the Esmeraldas, he went to Espiritu Santo, in Brazil, and succeeded to the command of the colony that had been founded there. The establishment soon dissolved, as the adventurers were only anxious for riches; and Vogué, having announced that he knew the location of the Mountain of Wealth, was soon at the head of a host, and led an expedition to the interior of the Mamalucos country, wandering for several years through central and south Brazil, and suffering many misfortunes. His confidence in ultimate success was never shaken, but he was abandoned by his followers, and fell at last into the hands of the Charcas Indians. It is supposed that he died during his captivity, although the „Colleccão de alguns manuscriptos curiosos“ credits to him the work „Jornada por el descobrimento de las Serras Esmeraldas“ (Seville, 1690).

THIBAUDIN, Gaston Louis (tee-bo-dang), French explorer, b. in Dunkirk in 1727; d. in Lima, Peru, in 1796. He studied botany in Paris under Buffon, was employed afterward by the Academy of sciences, and at the request of that body was given by Louis XVI. in 1776 a mission to South America. His instructions were to collect in Chili, Peru, and Cuba specimens of medicinal plants that could be naturalized in France. He landed in Concepcion early in February, 1777, journeyed for months through the pampas and the mountains, and formed a rich herbarium. After visiting Santiago and the large cities, he went to Callao, making also a voyage to the island of Juan Fernandez. Toward the end of 1780 his herbarium numbered about 1,500 specimens, including many new ones, when he left for the West Indies, but, owing to the war that then raged in the Gulf of Mexico between France and England, he remained at Carthagena occupied in arranging his collections till the truce of 1782. Then he resumed his voyage and went to Havana, where he formed a nearly complete collection of the flora of the island. On his return to France in 1785 he was elected a corresponding member of the Academy of sciences, and that body undertook also the publication of his works. He had made many friends in Peru, and, feeling insecure in Paris during the revolution, he returned in 1792 to Lima, where he taught mathematics till his death. Thibaudin’s works include „Description des plantes recueillir [sic] dans un voyage au Pérou et au Chili“ (2 vols., Paris, 1786); „Mémoire sur la flore de l‘ile de Cuba“ (1786); „Prodome [sic] de la flore du Chili avec herbier explicatif“ (4 vols., 1788): and „Prodome [sic] de la flore du Pérou avec herbier explicatif“ (4 vols., 1790).

HARMAND, Louis Gustave, French pilot, b. in Dieppe, France, in 1503; d. in Acapulco, New Spain, in 1549. He had served in the French navy, and in 1541 offered his services to Antonio de Mendoza, then viceroy of New Spain, who attached him to the expedition commanded by Vasquez de Coronado and Fray Marcos de Niza. On his return, Mendoza appointed him chief pilot, and in 1543 sent him to explore the coasts of California. He sailed in a small brig on 20 March, 1543, and kept always in sight of the land, making charts, and advancing three degrees farther than Hermand de Alarcon in the Gulf of California. He rectified the map of Alarcon, and brought back proof that California is not an island, as had been believed. Harmand landed several times, and collected some interesting traditions current among the natives, which he published under the title „Les indigenes de la California“ (Paris, 1647). A copy of the original edition, probably the only one now in existence, is in the National library of Paris. It has been reprinted by Ternaux Compans, the historian of the discovery of South America, in his collection. Harmand’s map of California is wonderfully exact, considering that the navigator had scarcely any instrument.

Wer Lust hat, selber mal in Appleton’s Cyclopedia reinzuschauen, findet sie hier online:
Volume 1: Aaron-Crandall
Volume 2: Crane-Grimshaw
Volume 3: Grinnell-Lockwood
Volume 4: Lodge-Pickens
Volume 5: Pickering-Sumter
Volume 6: Sunderland-Zurita

Eine Liste der fiktiven Artikel gibt es hier:
https://en.wikisource.org/wiki/Appletons%27_Cyclop%C3%A6dia_of_American_Biography/Fictitious_Entries

Und eine Liste der verdächtigen Artikel, die noch genauer überprüft werden sollten, ist hier:
https://en.wikisource.org/wiki/Appletons%27_Cyclop%C3%A6dia_of_American_Biography/Suspicious_Entries

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Literatur
Barnhart, J. H. (1919): Some fictitious Botanists. – Journal of the New York Botanical Garden, 20: 171-181.
Dobson, J. B. (1993): The Spurious Articles In Appleton’s Cyclopaedia of American Biography – Some New Discoveries and Considerations. – Biography, 16 (4): 388-408.
O’Brien, F. M. (1936): The Wayward Encyclopedias. – The New Yorker, 12 (2. Mai 1936): 71-74.
Schindler, M. C. (1937): Fictitious Biography. – The American Historical Review, 42 (4): 680–690.
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