Schlechtwetterfalter

Schlechte Nacht zum Fliegen ist die deutsche Übersetzung von Jack Ritchies amüsanter Kurzgeschichte The Cardula Detective Agency. Ritchies sonnenscheuer Privatdetektiv Cardula, der von Transsylvanien in die USA auswandern und sich einen Job suchen mußte (Sie erkennen das Anagramm?), hat eine Abneigung dagegen, in Nächten mit Gewitter und Starkregen zu fliegen. Die meisten Nachtfalter halten es ebenso.

Aber es gibt Arten, die in so unwirtlichen Lebensräumen vorkommen, daß sie auch bei schlechtem Wetter fliegen, Nahrung aufnehmen und sich fortpflanzen müssen: Arten in Feuchtgebieten und Hochmooren, Gebirgsarten, subarktische Arten beispielsweise. Und Arten, die im Spätherbst oder Vorfrühling fliegen, oder im Winter. Die können sich das Wetter gewöhnlich nicht aussuchen. Natürlich sind sie auch – oder sogar vorzugsweise – bei besserem Wetter aktiv, wenn es denn besseres Wetter gibt. Agrotis cinerea ist so eine Art, und in den Alpen Agrotis simplonia.
Einige Arten trifft man tatsächlich oft bei Wetter an, das viele Entomologen für den Nachtfang als ungünstig bis hoffnungslos einstufen würden, wärend sie in „günstigen“ Nächten seltener sind.

Gewöhnlich geht man bei – aus menschlicher Sicht – schlechtem Wetter gar nicht raus, aber in Lichtfallen erhält man manchmal entsprechende Arten. Oder man muß Schlechtwetternächte nutzen, weil man gerade an Ort und Stelle ist und nur die Alternative hat, zu leuchten oder nicht zu leuchten.

Als ob sie sich Nacht und Nebel anpassen wollte, ist Athetis pallustris auch noch unscheinbar gefärbt. Eine graue Maus für graues Wetter.

Ein klassischer Schlechtwetter- und Kälteflieger ist nach meinen Erfahrungen die unscheinbare Eule Athetis pallustris („Wiesen-Staubeule“). Die kenne ich ganz überwiegend von kalten oder naßkalten Nächten, etwa in den Hochalpen: Wenn sonst kaum etwas oder tatsächlich gar nichts fliegt, können immer noch ein paar Athetis pallustris auf dem durchgefeuchteten Tuch landen.

Wer im Herbst in Gewässernähe fliegt, muß an unwirtliche Umweltbedingungen angepaßt sein. Rhizedra lutosa, die „Schilfrohr-Wurzeleule“, fliegt auch noch in kühlfeuchten Nächten im Oktober und November, wenn sich der Nebel in den Bachtälern ausgebreitet hat und kein vernünftiger Lepidopterologe dort mit Anflug rechnet – außer eben mit Rhizedra lutosa. Sie ist aber auch in wärmeren Nächten aktiv.

Wie die meisten Schilf- und Rohrbewohner ist Rhizedra lutosa mit entsprechender Zeichnung und Färbung versehen: reduzierte Querlinien, angepaßte Farben.

Wenn es in Gebirgsnächten so weit abgekühlt ist, daß man seinen Atem sehen kann und man sich ärgert, daß man keine wärmere Jacke angezogen hat, gibt es manchmal immer noch Nachtfalteranflug.

Ein Morgen nach einem alpinem Lichtfang. Der Anflug am 9. Juli in 2.500 m Höhe war schon recht schwach gewesen: die Tiere hatten den Wetterumschwung gespürt. Als ich am nächsten Morgen im Auto erwachte, glaubte ich mich von dichtem Nebel umgeben. In Wirklichkeit war es der Schnee auf den Scheiben, der die Sicht nach draußen versperrte.

Eine der angeflogenen Arten war Euxoa culminicola, die Staudinger recht treffend benannt hat: Von culmen (lat.) der Gipfel und (in)colere (lat.) bewohnen. Eine Gebirgsart der Hochlagen, die in den Tallagen fehlt.

Euxoa culminicola ist einer der hochalpinen lepidopterologischen Leckerbissen, der erst relativ spät entdeckt wurde: 1869 fanden Otto Staudinger, Heinrich Frey und Johann Anderegg die Falter in Anzahl am Gornergrat im Wallis, auf über 3.000 m. Die bekannte Gornergratbahn, die den Tourismus in Zermatt wesentlich ankurbeln und auch die biologische Erforschung erleichtern sollte, existierte damals noch nicht; man mußte schon zu Fuß von Zermatt heraufsteigen. Die ersten Falter wurden in der Sonne schwärmend und an Silene acaulis saugend gefunden, aber die Art ist auch den widrigeren Wetterlagen ihres Lebensraums gut angepaßt.

Mit der hochalpinen Standfussiana wiskotti habe ich nicht so viel Erfahrung, aber auch diese Art habe ich zweimal in kalten, windigen Nächten oberhalb von 2.000 m am Licht gehabt, als fast nichts anderes anflog. Die Art wurde früher wohl manchmal mit Euxoa culminicola verwechselt; auch die unklare taxonomische Situation der anderen Standfussiana-Arten (lucernea, nictymera, dalmata) und die Unklarheit über deren alpine Verbreitung trug zur Verwirrung bei. 1888 veröffentlichte Standfuß ein Foto des Genitalapparats von Standfussiana wiskotti und definierte die Art anhand des Habitus und der Genitalmorphologie. Damit war er seiner Zeit voraus, aber bei weitem nicht der Erste, der bei Lepidopteren die Genitalien zur Artunterscheidung heranzog. Das hatte Rambur schon 1839 in seiner Bearbeitung der Gattung Pyrgus beispielhaft getan, aber keine Nachahmer gefunden. Im Gegensatz zu anderen Insektengruppen war bei den Schmetterlingen die Flügelzeichnung ein zu verführerisches weil auf den ersten Blick ersichtliches Merkmal und stand dadurch der Beschäftigung mit den – oft hilfreicheren – Genitalien lange Zeit im Weg.

Viele der Hochalpeneulen zeigen einen mehr oder weniger starken gelblichen Einschlag in ihrer Grundfarbe, so auch Standfussiana wiskotti. Zumindest an einigen ihrer Standorte könnte man das als Anpassung an die mit oft intensiv gelb gefärbten Flechten bewachsenen Felsen deuten.

So. Ein ganz besonderes Schmankerl habe ich noch für Sie. Die Art mit dem schönen Namen Lignyoptera thaumastaria (vom griechischen thaumastos = wunderbar, erstaunlich) ist für Geometridenkenner eine Traumart. Es gibt wahrscheinlich keinen lebenden Entomologen mehr, der die Art gefunden hat. Die gesicherten Nachweise stammen aus der Zeit vor 1940. Alles, was man über sie weiß, kann man bequem auf einer DIN A4-Seite unterbringen. Die Art ist ein Endemit mit einer extrem restringierten Verbreitung in wenigen Gebirgen in Bosnien-Herzegovina und Montenegro. Sie fliegt im Herbst, das heißt es fliegen die Männchen, denn die Weibchen sind flugunfähig. Soweit bekannt ist (das geht auf eine singuläre Beobachtung zurück), beginnt die Flugzeit oberhalb der Baumgrenze erst dann, wenn der erste Schnee gefallen und teilweise wieder weggetaut ist.

Entdeckt wurde das Tier von Othmar Werner. Am 15. Oktober 1901 fand er ein Männchen „auf einem höheren Gebirgszuge südlich von Zepce in Bosnien“ und Rebel beschrieb es noch im selben Jahr als neue Art. Im Oktober 1903 fand Werner einige weitere Männchen.
Das erste Weibchen wurde aus einer Puppe gezüchtet, die Arnold Penther am 16. August 1904 im Durmitorgebirge in Montenegro auf dem nordwestlich vorgelagerten Vorberg Skakala in 1.500 m Höhe unter einem Stein fand und aus der am 2. Oktober das stummelflügelige Weibchen schlüpfte, das man korrekterweise als das von Lignyoptera thaumastaria interpretierte.
Nach Lunak soll Laszló Diószeghy 1936 im Retyézat-Gebirge (rumänische Südkarpaten) ein tagsüber fliegendes Männchen erbeutet haben.
In seiner Bearbeitung der Geometridenfauna Mazedoniens erwähnt Pinker (1968) in einer Fußnote einen angeblichen Fund am Olymp in Griechenland. Skou & Sihvonen (2015, The Geometrid Moths of Europe, vol. 5) suchten ergebnislos nach einem Belegstück, weshalb diese Angabe unsicher bleibt. Eine Meldung aus dem Galicica Nationalpark in Mazedonien beruht laut Beshkov auf einer Verwechslung mit der ähnlich gefärbten Enanthyperythra legataria.

Fast alles, was man über die Biologie von Lignyoptera thaumastaria weiß, hat Robert Lunak auf einer bemerkenswerten Exkursion im Herbst 1937 und bei darauf folgenden Zuchten herausgefunden (Lunak 1938, 1940). Lunak hatte ein spezielles Interesse an Geometriden und war mit der einzigen anderen Art der Gattung Lignyoptera, dem Steppenfrostspanner [1] Lignyoptera fumidaria aus Niederösterreich und dem Wiener Umland gut bekannt. Er las, was er an Informationen finden konnte, über die bisherigen Funde von L. thaumastaria und brütete stundenlang über Karten. 1935 wäre er beinahe schon nach Zepce gefahren, doch die Reise kam nicht zustande, was sich im Nachhinein als glücklich erwies. Im folgenden Jahr stellte er nämlich die Vermutung auf, daß der Fundort am Durmitor im Karst liege und die Fundstelle in Bosnien eine ähnliche Geologie aufweisen müsse. Seine Karten zeigten ihm anhand des Fehlens von Wasserläufen, daß die Vlašić planina in der Nähe von Travnik ein Kalkgebirge sein mußte und so wurde diese sein Zielgebiet im Jahr 1937. Auch über die Flugzeit hatte sich Lunak Gedanken gemacht:

„Da war einmal die Frage der Tageszeit des Fluges. Die zweite Lignyoptera-Art, fumidaria Led., fliegt nur bei Tag und besonders gerne bei Nebel; so war das gleiche von der in derselben Gattung stehenden thaumastaria anzunehmen. Weitaus rätselhafter aber war, wie dieser zarte Falter es fertig brachte, so spät, erst im Oktober, auf den um diese Zeit bereits schneebedeckten Höhen zu existieren und vor den in den Gebirgen Bosniens und Montenegros besonders argen boraartigen Stürmen Schutz zu finden. Hier erscheint die Flugunfähigkeit der ♂♂ geradezu als eine unbedingte Notwendigkeit zur Erhaltung der Art, um vom Sturme nicht vertragen zu werden. Freilich setzt in diesen Gegenden stets im Herbste noch Südwind ein, welcher den ersten Schnee wieder zum Abschmelzen bringt und damit ist auf kurze Zeit die Möglichkeit zum Geschäfte der Fortpflanzung vorhanden.“

Wie Lunak nach Bosnien fuhr, in Travnik den Schlüssel zu einer unbewirtschafteten Schutzhütte erhielt und am 18. Oktober zur Vlašić planina aufstieg, wie er tagsüber und nachts zwischen Schneefeldern nach dem Falter suchte und am 20. Oktober bei Tage die ersten zwei abgeflogenen Männchen fand, wie er eines davon einsperrte, um die Aktivitätszeit herauszufinden, wie er dann in der ersten Nachthälfte eine lokale Flugstelle der Art und auch einige Weibchen im Gras sitzend fand, wie er den Paarungsflug in den Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen identifizierte, …

„Um 5 Uhr früh war ich wieder am Flugplatz […] es war die Zeit des Copulationsfluges […] Im weißen Reif glitzerte die Vlasic planina im Mondlicht, das Thermometer zeigte 2 Grad Kälte und unbekümmert flogen die Falter.“

… und wie er schließlich mit einigen Eiern, die ihm die Weibchen gelegt hatten, hoch befriedigt, die letzten Schlüpftage der Flugzeit erlebt zu haben, nach Hause reiste, das können Sie in seinem Reisebericht (Teil 1 hier und Teil 2 hier) nachlesen. Eine ganze Farbtafel gönnte ihm die Redaktion der Zeitschrift, was damals keine Selbstverständlichkeit war. Zwei Jahre später gab er seine Erfahrungen bei der Zucht von Lignyoptera thaumastaria im Vergleich mit der Biologie von L. fumidaria bekannt. Der Zuchtstamm war nach zwei Jahren eingegangen, weil immer nur ein Teil der Puppen schlüpfte; den Tieren fehlten in Wien offenbar die Umweltbedingungen der bosnischen Hochgebirge.

Zwei Männchen von Lignyoptera thaumastaria Rebel, 1901. Der linke Falter wurde am 22. Oktober 1937 von Robert Lunak auf der Vlašić planina gefangen, der rechte stammt aus der Nachzucht (© Staatliches Museum für Naturkunde Karlsruhe). Gäbe es Lebendfotos von der Art, könnte man sehen, daß die Falter in Ruhestellung ihre Flügel wie die Alsophila-Arten übereinander schieben.

Seitdem hat meines Wissens niemand mehr die Art gefunden und wohl auch nicht gezielt gesucht. Teile der Vlašić planina sind seit dem Bosnienkrieg vermint und laden nicht zu Exkursionen ein, aber die Art besitzt sicher weitere, noch unbekannte Fundstellen.

„Mit ihrer Farbenpracht und der eleganten, in der Ruhe eigenartig übereinandergelegten Flügelhaltung zählt L. thaumastaria wohl zu den schönsten Geometriden“, meinte Robert Lunak, vielleicht ein wenig über-enthusiastisch. Nun, Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Wer in den 1930er Jahren auf gut Glück nach der ersten Schneeschmelze im Oktober in ein bosnisches Gebirge reist und um 5 Uhr morgens bei Minusgraden nach einem Schmetterling sucht – und ihn findet! – der darf ihn nicht nur sondern der sollte ihn auch besonders schön finden.

Literatur
Lunak, R. (1938): Im Hochgebirge Bosniens wegen Lignyoptera thaumastaria. – Zeitschrift des österreichischen Entomologen-Vereines, 23: 1-5, 19-22, Taf. 1. [ https://www.zobodat.at/pdf/ZOEV_23_0019-0022.pdf ]
Lunak, R. (1940): Die Biotope und Biologie von Lignyoptera thaumastaria Rbl. im Vergleich mit L. fumidaria Hb. – Zeitschrift des Wiener Entomologen-Vereines, 25: 94-98, Taf. 16.

[1] Ich benutze diesen deutschen Namen nur als Überbegriff für mehrere Spätherbstspanner mit flugunfähigen Weibchen. Meistens wird Chondrosoma fiduciaria als „Steppenfrostspanner“ bezeichnet, aber inhaltlich paßt der Name auch auf L. fumidaria. Mit dem „Kleinen Frostspanner“ (Unterfamilie Larentiinae) und dem „Großen Frostspanner“ (Unterfamilie Ennominae) sind beide nicht nahe verwandt.
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