Ein Beitrag von Sybille Przybilla
Es war einer dieser wunderschönen Spätsommertage: Das raschelnde Laub, wie von einem großen Pinsel in warme, bunte Herbstfarben getaucht, hatte etwas Meditatives. Am Himmel schwebte ein Herbstwölkchen und die etwas kühler werdenden Temperaturen ließen erahnen, dass sich die Natur im Wandel befand und sie sich bald in einem neuen Kleid zeigen sollte.
Am Himmel zeichneten Kondensstreifen langgezogene Linien. Ja, war denn der Weihnachtsmann mit seinem Rentierschlitten bereits auf Übungsfahrt für die bald bevorstehenden Auslieferungs-Weihnachtsfahrten?
Ich pustete, immer noch in Gedanken versunken, entspannt eine Haarlocke aus meinem Gesicht, erhob mich vom sonnenerwärmten Wiesenboden, auf welchem ich mich nach einem ausgedehnten Spaziergang niedergelassen hatte und kurz eingenickt war.
Vereinzelt summten noch Bienchen um die bunten, im leichten Wind taumelnden Wiesenblumen. Etliche Tagfalter wärmten, auf einzelnen Blütenköpfchen sitzend, ihre nach der Sonne ausgerichteten Flügel auf. Manche taumelten von Blüte zu Blüte, um sich an den kostenlosen Nektartankstellen zu bedienen. Durch Sonnenkraft und Nahrung aufgeheizt und vollgetankt entschwanden die flatternden Schönheiten in die Lüfte.
Bald sollten nachts wieder die Herbsteulen unterwegs sein, deren Farbgebung und Zeichnung mich immer wieder aufs Neue zum Staunen bringen. Gedanklich schweifte ich zurück in die bereits vergangenen Monate des Jahres: Im Frühjahr und Sommer erfreuten mich die unterschiedlichsten, in Größe, Flügelform und Farbe variierenden Schmetterlinge. Da war das unglaubliche Grün des Grünen Zipfelfalters, der bereits im Frühjahr unterwegs war. Sein Anblick entlockt mir immer wieder aufs Neue einen Stoßseufzer. Sehe ich ihn im späten Frühjahr zum ersten Mal, weiß ich, die Natur ist wieder am Durchstarten. Überall explodieren die Pflanzen, saftiges Grün ziert die sich frisch entfaltenden Blätter und Gräser, geschäftiges Treiben in der Tierwelt zeugt von neu Entstehendem. Das zum Dahinschmelzen zarte Grün des Perlglanzspanners, das eine seltsame Sehnsucht in mir weckt, der grünschimmernde kleine Eichenwickler sowie das satte Grün des Smaragdspanners wirken wie Balsam auf meine Seele.
Im Sommer konnte ich immer wieder die um blühenden Blutweiderich flatternden, zartblauen Faulbaum-Bläulinge beobachten, die sich auf der Suche nach geeigneten Eiablageplätzen befanden. Pfützen, die sich nach einem Wolkenbruch auf einem meiner Wanderwege gebildet hatten, zogen Bläulinge an, um hier am feuchten Boden Mineralstoffe aufzunehmen. Und denke ich an das unglaubliche Blau der Flügeloberseiten des Himmelblauen Bläulings, der mir immer wieder auf ausgedehnten Spaziergängen begegnete, kommt Leichtigkeit auf. Auf einem meiner Streifzüge an einem leicht bewölkten Tag leuchtete am Hang zu meiner linken Seite bei jedem Sonnenstrahl, der sich den Weg durch die Wolken bahnte, an vielen Stellen Blau auf. Es wirkte, als hingen überall verteilt kleine, strahlende und blinkende Edelsteine. Es waren die Bläulinge, die, kopfabwärts an Grashalmen ruhend, ihre himmelblauen Flügel öffneten und ein mir unvergessenes Schauspiel boten.
Ein ebensolches bot sich mir, als mir auf einem meiner Ausflüge in die Natur ein bärtiges sonnengebräuntes Mannsbild mit Kescher in der Hand buchstäblich über den Weg lief. Er baute sich vor mir auf, redete wie ein Wasserfall und machte dem Wort „Vorstellung“ alle Ehre: „Wissen Sie, eigentlich bin ich als Entomologe sonst um diese Jahreszeit in der ganzen Welt unterwegs, aber nun, diese ungewöhnliche Zeit erfordert es, im Ländle zu bleiben. Bin ungebunden, daher flexibel, habe immer einen Blick für das Wesentliche (bildete ich es mir nur ein oder musterte er mich ungeniert von oben bis unten?), halte Ausschau nach Spinnern, Spannern und Sackträgern und – mit verheißungsvollem Blick und einem Augenzwinkern – nach dicken Weibchen zwecks …“. Momentchen, das ging entschieden zu weit. Meinte dieser zugegebenermaßen interessant wirkende Naturbursche – mich? Er bemerkte wohl meinen betretenen Gesichtsausdruck und den Abstand, den ich zwischen uns vorsorglich aufgebaut hatte. Er fügte entschuldigend und mit einem unverschämt breiten Grinsen im Gesicht hinzu: „Sorry, das sind Schmetterlingsfamilien und als Lepidopterologe freue ich mich immer über Falterweibchen, erkennbar – im Vergleich zu den Faltermännchen – an ihrem dicken Hinterleib, ihrer Eiervorratskammer. Manche eingesammelte Falterweibchen lasse ich zuhause in geeigneten Zuchtbehältern Eier für Schmetterlingszuchten ablegen.“ Er kam in Fahrt. „Wega so ra Mott hau i mr oft Nacht um d´Ohra“ verkündete er mir lauthals lachend und wedelte vor lauter Begeisterung aufgeregt mit seinem Kescher hin und her. Die wilde Herumfuchtelei mit seinem Schmetterlingsnetz hatte zur Folge, dass sich ebensolches im nahestehenden Schlehengebüsch verfing, mein Gegenüber ins Straucheln kam. Unbeabsichtigt drehte er eine halbe, für eine Nicht-Balletteuse tatsächlich beeindruckende Pirouette. Sein Netz wickelte sich dabei ungewollt zusätzlich um sein rechtes Handgelenk, wodurch sein dumpfer unerwarteter Aufschlag auf der Wiese etwas aufgefangen wurde. Der umwickelte Arm federte unfreiwillig mehrmals nach und das Ganze gab für Außenstehende ein nicht alltägliches Bild ab.
Vorich Woch hat auf dr Alb d´Erda bebbt, Schtufe zwei komma neun; sein Aufschlag kam dem sehr nah!
„Mein Kescher, mein Kescher, so viele Jahre hat er mich treu begleitet und viele „Juwelen“ für mich erhascht, ein Erinnerungsstück, das so nicht ersetzbar ist … Blablabla …“ Wie gerne hätte ich in diesem Moment für diesen Sießholzraschblr einen Muggabaddscher zur Hand gehabt, auf dass er verstumme! Okay, okay, ich würde niemals nicht auf einen hilflosen, am Boden liegenden Mann einschlagen, auch nicht mit einem Muggabaddscher …
„Lemonia dumi, Lemonia dumi!!!“ Sein lauter Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken. Dunderlattich, sein Dez funktionierte noch. Sprachlos beobachtete ich, wie er sich behände aus seiner misslichen Bodenlage befreite. Erst zu diesem Zeitpunkt fiel mir ein kleines Plastikdöschen auf, welches mit Schnur an seinem linken Handgelenk befestigt war und bis gerade eben samt ihm am Boden gelegen hatte. Dicklich bräunliche, mit einem gelben Querstreifen versehene Falter mit großen gefiederten Fühlern umschwirrten das Döschen, um schnell wieder zu verschwinden. Nanü? „Ein Erstnachweis für dieses Gebiet, ein Erstnachweis! Ich muss weiter“ Er sprang auf mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, sammelte sich kurz, um mich dann staunend, mit offenem Mund und einer Frage auf den Lippen, zurückzulassen.
Auf einem nahegelegenen Gartengrundstück wurde etwas verbrannt, kleine Rauchwölkchen stiegen auf. Apropos Rauchzeichen: Bilder von meinem ersten Grillversuch waberten vor meinem geistigen Auge auf und ab: Leicht angekokelte, ehemals mit Speck ummantelte Fleischstückchen mit faszinierendem rußverschmiertem Muster samt kurzentflammtem, mit Chilisoße mariniertem Gemüse zierten den neuen Grill. Nun, das war eine andere Baustelle.
Ich schob meine Gedanken zur Seite, steckte mir die zuvor vom Waldboden aufgesammelten Kiefernzapfen ein. Plötzlich einsetzender Schneefall im Spätsommer; ich versank knöcheltief im Schnee. Rentiere auf dem eingeschneiten Weg vor mir, die mich verdutzt anglotzten … Mein Gedankenkarussell kam wieder gehörig in Fahrt!
Realität, Erinnerungen, Wunschdenken?!?
Tagträume hatten etwas Verwirrendes! Langsam öffnete ich meine Augen und schälte mich aus der wohlig warmen Decke, erhob mich vom Sofa und ging zum Fenster, auf dessen Sims die ersten Schneeflöckchen liegen geblieben waren. Also doch! Es sollte weiße Weihnachten geben.
Sybilles Buch: Flatterhafte Schönheiten