Einen Bären aufgebunden – Die Wiederentdeckung von Arctia flavia

Jedenfalls wurden fast unglaubliche Geschichten erzählt und publiziert.
Peter Marmet & Jürg Schmid (2000)

Legendenbildung und Anekdotenerfindung haben auch im entomologischen Bereich seit jeher ihren festen Platz gehabt. Speziell gilt dies im Zusammenhang mit besonders seltenen, besonders schönen und bei Sammlern begehrten Arten. Daß der Handel mit diesen Tieren dabei auch stets ein Thema war, versteht sich von selbst.

Einst sehr begehrt, aber heute durch modernen Lichtfang leicht nachzuweisen – wenn man die Geduld hat, bis in die frühen Morgenstunden auszuharren.

Der große, hochalpine Bärenspinner Arctia flavia, bekannt als „Gelber Bär“ oder „Engadiner Bär“, wurde bereits in den 1770er Jahren entdeckt und 1779 von Fuessly beschrieben. Diese Entdeckungsgeschichte ist in Band 3 des großen Schweizer Faunenwerks Schmetterlinge und ihre Lebensräume von Peter Marmet und Jürg Schmid sehr schön ausführlich recherchiert und geschildert worden. Im frühen 19. Jahrhundert scheint die Art dann nicht mehr gefunden worden zu sein und eine Zeit lang galt sie als verschollen, bis man sie schließlich um die Mitte des Jahrhunderts wieder auffand.

Fast vier Jahrzehnte später, im Jahr 1888, erschien ein Aufsatz in der Societas entomologica, dessen Autor nur durch das Kürzel K. L. bezeichnet war. Diese Quasi-Anonymität erklärt sich durch das Thema der Arbeit: Es ging um die Umtriebe von Sammlern und Händlern, die um die Jahrhundertmitte versucht hätten, die von bestimmten Kennern angeblich geheimgehaltenen Fundstellen der seltenen Arctia flavia zu erfahren. Den Wahrheitsgehalt dieser anekdotischen Geschichte werden wir gleich überprüfen. Zwar behauptet der Autor K. L.:

„[…] was ich erzähle kommt einem Roman so ziemlich gleich, dennoch sind es reine Thatsachen, die ich oft aus dem Munde meines verstorbenen Vaters vernommen habe, der die Betheiligten nicht nur gut gekannt, sondern ihnen auch nahe gestanden hat.“

Es handelt sich also um mündliche Überlieferungen – auch bekannt als Hörensagen – und jeder weiß, wie gern solche Erzählungen im Laufe von Jahrzehnten ausgeschmückt, ergänzt und verändert werden – manchmal selbst von den beteiligten Personen.

Hier ist die Geschichte, die K. L. erzählt: Der Hauptakteur ist der Augsburger Lehrer und Naturalienhändler Johann Georg Bischoff, der in den Schweizer Alpen eine Fundstelle von Arctia flavia kannte und dort jährlich gesammelt haben soll. (K. L. buchstabiert Bischoff mit nur einem f, Bischoff selber schrieb sich aber mit ff.)

„Der Schmetterling, erst seit etwa 100 Jahren bekannt, hatte noch bis in die vierziger Jahre [gemeint sind die 1840er Jahre] einen Preis von ca. Fr. 50 —, billiger konnte man von Bischof, der allein den Schmetterling liefern konnte, kein tadelloses Exemplar erhalten. Lange Jahre genoss Bischof das Privilegium Flavia zu finden und zu verkaufen und er selbst machte kein Geheimniss daraus, dass er dem Handel damit sein anständiges Vermögen verdankte.“

Auf dieser Prämisse aufbauend entwickelt K. L. seine Erzählung.

„Bei seinen Excursionen in die Schweiz befleissigte Bischof sich solcher Aengstlichkeit und Vorsicht, dass er stets in der ersten Grenzstadt auf Schweizergebiet seinen guten Anzug in einem Koffer zurückliess und bald als Landmann, bald als Handwerker gekleidet, seinen Weg zu Fuss fortsetzte, Grund genug zu solcher Heimlichkeit mag er hinreichend gehabt haben, denn ihm war gut bekannt, dass übereifrige Entomologen seine Spur verfolgen und die Fundstellen der Flavia ausfindig machen wollten.
Wie Bischof nach langen Jahren selbst erzählte, hörte er in der Tracht eines Landmannes in einem Gasthause zu Thusis dem Gespräch eines ihm persönlich bekannten Entomologen aus München zu, welches dieser mit dem Wirth pflog und das sich auf Bischof bezog, seine Kleidung, die er bei der Abreise von Augsburg getragen, wurde genau geschildert, überhaupt ein für B. nicht gerade schmeichelhaftes sorgfältiges Signalement [= Beschreibung] gegeben, natürlich erinnerte sich der Gastwirth keines Fremden auf den diese Einzelheiten zutrafen. Mit Vergnügen dagegen vernahm Bischof ferner, dass sein Conkurrent nun eine ganz andere Richtung einschlagen wolle, da derselbe es für ausgemacht hielt, einer falschen Spur gefolgt zu sein.“

Johann Georg Bischoff (1805-1880), hier in normaler, seriöser Kleidung. Wie er als Bauer oder Handwerker verkleidet ausgesehen haben könnte, ist nicht dokumentiert.

„Der eifrigste unter allen Nachforschern war aber ein gewisser Assessor P., der Bischof nicht persönlich kannte und nur im Besitz einer genauen Personalbeschreibung schon zweimal vergeblich ihm in die Schweiz gefolgt war, um sofort auf der Grenze jede Spur zu verlieren, was um so begreiflicher war, als er nur auf den anständig gekleideten Mann Jagd machte.“

Dieser Herr P. war der Landgerichtsassessor Franz Pfaffenzeller aus München.

„Der rechtskundige Assessor gab indess, trotz der zweimaligen Niederlage sein Vorhaben nicht auf, nach seinem eigenen Ausspruch gesellte sich zu der Begierde, den Aufenthalt der Flavia zu entdecken, noch die verletzte Eitelkeit, dass es ihm nicht gelingen wollte, die Spur Bischofs zu finden und schon während seiner zweiten vergeblichen Excursion kam ihm der Gedanke, dass sein Vorgänger auf besondere Weise reisen müsse. Um B. nicht zum dritten Male zu verfehlen, war Assessor P. schon mehrere Tage vor der gewöhnlichen Abreise Bischofs in Augsburg, es gelang ihm denselben unbemerkt einigemale zu sehen, um sich sein Signalement [= Aussehen] genau einzuprägen und als Letzterer, der absichtlich mit seinen Reiserouten wechselte, in Bregenz anlangte, hielt gleichzeitig Assessor P. mit ihm daselbst seinen Einzug, ohne dass Bischof eine Ahnung von der Verfolgung hatte.
Bis Bregenz also hatten Beharrlichkeit und List unseren Assessor die Spur mit Glück verfolgen lassen; täuschte er sich nun in seiner Menschenkenntniss und wählte zu seinen weiteren Nachforschungen ein untaugliches Subjekt, oder machte ihn schon der bisherige Erfolg trunken, genug, kaum erfuhr Bischof, dass eine Erkundigung über seinen morgigen Weggang eingezogen worden sei, so traf er misstrauisch, wie er immer war, seine Gegenanstalten. Im Morgengrauen brach ein in Bischofs Kleidung gesteckter Mann auf, welcher von ihm zu diesem Zwecke angeworben war, mit der Weisung nach dreistündigem Marsche von jedem gebahnten Weg abzubrechen und sich am Abend durch Wälder und Berge wieder heimlich nach Bregenz zurückzubegeben. Zehn Minuten nach dem Aufbruch des Doppelgängers sah Bischof aus dem benachbarten Gasthause einen Fremden herauskommen und dem Vorangegangenen folgen, er selbst machte sich eine Stunde später in entgegengesetzter Richtung auf den Weg und rettete sein Geheimniss noch einmal, um es in Kürze auf unedle, ja gemeine Art zu verlieren.“

Und nun kommt die Antiklimax: Der durchtriebene Assessor überlistet den arglosen Bischoff, dem seine Schwäche gegenüber alkoholischen Genußmitteln zum Verhängnis wird:

„Der arg enttäuschte Assessor schlug nun einen andern Weg ein, der ihn an das ersehnte Ziel führte. Unter fremdem Namen stellte er sich bei Bischof selbst vor, gewann durch Ankauf von Schmetterlingen dessen Vertrauen und lud ihn zum Wein, dem Bischof, der ein äusserst sparsamer Mann war, in Anbetracht der freien Zeche wacker zusprach. Auf dieses hatte natürlich P. gerechnet, er bearbeitete seinen Gastfreund so vollständig, dass dieser alle Vorsicht vergessend, dem neugewonnenen Freund alle wünschenswerthen Mittheilungen bis in die kleinsten Details ohne Rückhalt machte. Lange ehe Bischof sich im nächsten Jahre zum Aufbruch rüstete, war schon Assessor P. an Ort und Stelle, fand und erzog Flavia und gab sie sofort zur Hälfte der seitherigen Preise ab, um schnell damit zu räumen und seine Concurrenten aus dem Felde zu schlagen. Als Bischof von dieser Ueberlistung später Kenntniss erhielt, bediente er sich eines so drastischen Ausspruches, was ihm hätte geschehen sollen, als er den Mund zum Plaudern öffnete, dass er nicht wiedergegeben werden kann.“

Das war nun K. L.s Geschichte, die zu schön scheint, um wahr zu sein. Am Schluß enthält sie sogar noch eine Moral: Hüte dich vor übermäßigem Alkoholkonsum!

Sobald man die originalen Veröffentlichungen der Beteiligten liest, kommen schwere Zweifel am Wahrheitsgehalt von K. L.s Anekdote auf. Im Jahr 1857 erschienen von Bischoff und von Pfaffenzeller zwei Arbeiten über Arctia flavia in verschiedenen Zeitschriften:

Pfaffenzeller, F. (1857): Ueber Euprepia flavia. Ein Brief an Professor Hering in Stettin. – Entomologische Zeitung herausgegeben von dem entomologischen Vereine zu Stettin, 18: 84-90, 1 Taf.
Bischoff, J. G. (1857): Eyprepia flavia. – Berichte des naturwissenschaftlichen Vereins Augsburg, 10: 43-48, 1 Taf.

Pfaffenzellers Arbeit erschien zuerst (in der März-Nummer der Stettiner Ent. Ztg.); Bischoff hat seiner Arbeit noch eine Nachbemerkung anhängen können, in der er Pfaffenzellers Aufsatz kommentiert. Eine Rivalität zwischen beiden, zumindest eine offene Rivalität, läßt sich aus diesen Arbeiten nicht herauslesen.

Bischoff rekapituliert zunächst die Entdeckung von Arctia flavia in den 1770er Jahren und kommt dann auf die Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert zu sprechen:

„Herr Dr. Moriz Wagner, der berühmte Reisende, wurde vor sechs Jahren [1850 oder 1851], während seines Aufenthalts im Bade zu St. Moritz, nach so vielen Jahren, wieder zuerst durch den Fund von Flavia erfreut, ebenso im Sommer 1854 Herr Assessor Pfaffenzeller in München, durch mich aufmerksam gemacht, in derselben Gegend.“ (Bischoff 1857: 44)

Mit Moritz Wagner war Bischoff gut bekannt und hat sicher von ihm persönlich von seinem Arctia-flavia-Fund gehört. Der zweite Satz zeigt, daß Pfaffenzeller den Fundort St. Moritz von Bischoff erfahren hat. Das war allerdings bevor einer von ihnen Arctia flavia selber gefunden hatte. Könnte das vielleicht der Ursprung der Wein-Episode gewesen sein? Einfach nur die Weitergabe dieser Fundortangabe, die auf Moritz Wagner zurückging?

1853 hat Pfaffenzeller im Sommer um St. Moritz gesammelt und Freyer (1854) hat aus dieser Ausbeute eine Form von Mythimna andereggii abgebildet und beschrieben (cinis Frr.). Freyer erwähnt dazu einige weitere Eulenfalter, aber von Arctia flavia ist noch keine Rede.

Im folgenden Jahr 1854 gelang Pfaffenzeller sein erster Fund:

„Es ist Ihnen bekannt, dass ich schon vor zwei Jahren (im Sommer 1854) bei einer grössern Excursion in die Schweiz, im Orte Samaden in Ober-Engadin ein Flavia-Weibchen fing. Dieses bereits verflogene Thier fand ich Abends bei dem Heimkehren von den Alpen, Ende Juli 1854, an einem vorspringenden Felsen sitzend, hart an der Fahrstrasse durch ein überhängendes Felsenstück gedeckt, und daneben 25 Eier.
Mit Hülfe des Entomologen Herrn Bischoff von Augsburg, der acht Tage später von einer andern Excursion her an Ort und Stelle kam, fand ich an der bezeichneten Stelle noch zwei andre Partien Eier, circa 60 Stück, wovon leider die Hälfte durch ein Versehen wieder verloren ging. Von den übrigen theilte ich Herrn Bischoff mit.
Nach Verlauf von 14 Tagen, auf der Heimreise begriffen, hatte ich von sämmtlichen Eiern circa 40 lebende Räupchen erhalten, welche ich mit Wolfsmilch und Löwenzahn fütterte.“ (Pfaffenzeller 1857: 85)

Pfaffenzeller hat also in diesem Jahr den ersten Falter gefunden, dann „mit Hülfe“ von Bischoff an derselben Stelle weitergesucht und ihm sogar einen Teil der Eier überlassen. Das klingt nicht nach konkurrierenden oder gar verfeindeten Sammlern.
Bei Bischoff liest sich das so:

„Ein glücklicher Zufall brachte mich in den Besitz von 29 Eiern, welche von einem im August 1854 gefangenen Weibchen stammen.“ (Bischoff 1857: 45)

Die ausweichende Formulierung vom glücklichen Zufall erlaubt ihm, zu verschweigen, daß er die Eier nicht selbst gefunden sondern von Pfaffenzeller erhalten hatte. Aber was die Fundstelle betrifft spart er nicht an Details:

„Als Fundort kann ich einen grossen Felsen, nur 6 bis 8 Minuten von Samaden an der Strasse nach Chur, im Canton Graubünden bezeichnen. Dieser Felsen, in dessen Ritze die Mutter meiner kleinen Colonie ihre Eier abgesetzt hatte, war mit Gras und vielen kleinen Alpenpflanzen bedeckt, und obwohl hart an der Strasse, beträgt die Lage doch mehr als 6000 Fuss über dem Meere, so dass ich sehr besorgte, es möchte den Räupchen keine in der Ebene wachsende Pflanze zusagen.“ (Bischoff 1857: 45)

Das ist die Stelle, die meiner Ansicht nach der Anekdote von K. L. den Todesstoß versetzt. Viel genauer konnte man einen Fundort zur damaligen Zeit kaum beschreiben. Von wegen Geheimhaltung: Beide angeblich so geheimniskrämerischen Konkurrenten geben ihren Fundort gleich in ihrer ersten Publikation über Arctia flavia der Öffentlichkeit preis.

Die verlustreichen Zuchten ergaben bei Pfaffenzeller gar keine, bei Bischoff vier Falter, die alle Weibchen waren. Somit konnten auch keine Nachzuchten erzielt werden.

Bischoffs Falter waren nach nur einmaliger Überwinterung geschlüpft. Einen davon überließ er Christian Friedrich Freyer, der 1856 im Heft 115 seiner Neueren Beiträge zur Schmetterlingskunde Abbildungen von Raupe, Puppe und Falter veröffentlichte:

„Im Jahr 1854 fand Hr. Assessor Pfaffenzeller in München, auf einer Reise im Engadinthal ein Weibchen dieses Spinners, das eine Anzahl Eier legte die befruchtet waren und aus welchen sich die Räupchen glücklich entwickelten. Er theilte diese Raupenzucht mit Hrn. Bischoff dahier, doch gingen während des Winters von 1854 auf 1855 die meisten Räupchen zu Grunde. Nur Hrn. Bischoff gelang es, mehrere zu überwintern, und auch 4–5 Exemplare glücklich zu erziehen, die jedoch sämmtlich Weiber gaben. Einige todte Räupchen erhielt ich behufs der Abbildung von Hrn. Pfaffenzeller zugeschickt und auch Hr. Bischoff gab mir von einer Raupe die abgestreifte Haut, nach welchen Fragmenten ich meine vorliegende Abbildung liefere.“ (Freyer 1856: 126)

Tote Raupen und eine leere Raupenhaut sind keine idealen Bedingungen für eine Abbildung. Freyer hat das Beste daraus gemacht, aber die wuschelige Haarigkeit der lebendigen Raupe natürlich nicht so gut treffen können wie Geyer und Penkmayer, die im folgenden Jahr am lebenden Motiv arbeiteten. Man fragt sich, warum Bischoff, der ja wie Freyer in Augsburg lebte, ihm nicht schon eine lebende Raupe zum Abmalen gebracht hat.

1855 war Pfaffenzeller erneut im Engadin und wurde wieder fündig, wenn auch unter großen Mühen. Er hielt sich von Ende Mai bis Anfang September, also zwölf Wochen lang, in den Alpen auf, meist in der Gegend um St. Moritz, mit einem Abstecher ins Veltlin und ins Bergell. (Hatte man als Assessor damals so viel Urlaubsanspruch?) Das Ergebnis: eine eingesponnene Raupe bei Sils, aus der am 29. Juli ein Männchen schlüpfte. Mehrere leere Puppenhüllen, teils aus den Vorjahren. Drei Männchen an Felsen am 24. und 26. Juli und 4. August. Und 16 Raupen.

„Die letzte Raupe fand ich am 7. August beim Abheben einer wohl 2 Schuh langen Felsen-Schicht ohne alles Futter in der engen finstern Felsenbehausung sitzend, bereits zu ⅔ erwachsen.
Anfangs September kehrte ich mit 16 lebenden Flavia Raupen, die zu ⅔ erwachsen, nach Hause; ich hatte sattsam die Seltenheit dieses Schmetterlinges kennen gelernt, und kann mich nunmehr auch über seinen hohen Preis nicht mehr wundern.
Wer nicht glücklicher im Finden ist als ich, der erhält auch beim günstigsten Endresultate schwerlich genügende Entschädigung für seine Auslagen.“ (Pfaffenzeller 1857: 89)

Auf der Heimreise fährt Pfaffenzeller über Augsburg und sieht Bischoffs vier Zuchtfalter, die eine nur einjährige Entwicklung durchgemacht hatten. In einer Nachschrift zu seiner Veröffentlichung hält er fest, daß er seine Raupen aus dem Jahr 1855 zwar alle über den Winter gebracht hat, daß aber sechs von ihnen im Frühjahr 1856 eingegangen sind. Ob er die restlichen zehn noch durchgebracht hat?

Immerhin führten die Engadinreisen der beiden Entomologen zur Veröffentlichung von guten Abbildungen von Raupen und Faltern. Bischoff gab seinem Aufsatz eine von Carl Geyer geschaffene Farbtafel bei. (Das Männchen war eine Kopie nach Hübner.)

Pfaffenzellers Arbeit wurde von einer kolorierten Lithographie von Josef Penkmayer begleitet, dem es gelungen ist, die realistischste Darstellung der Raupe zu liefern:

Über weitere Engadinreisen der beiden Protagonisten ist meines Wissens nichts veröffentlicht. Es kann sein, daß sie noch öfter nach Arctia flavia gesucht haben. Im August 1856 hat Bischoff in Gamsen im Wallis den alten Wolfgang Anderegg besucht, der so viele alpine Arten erstmals entdeckt hatte, und von ihm erfahren, daß er Arctia flavia noch nie gefunden hatte. Weiter berichtet er:

„Einem Sammler, welchen ich im Juni dieses Jahres nach Samaden sandte, und der bis Mitte August dort verweilte, war es nicht möglich, weder Raupe noch Schmetterling von Eyp. Flavia, aufzufinden.“ (Bischoff 1857: 48)

Es bleibt unklar, ob damit die Saison 1856 oder 1857 gemeint war, denn wir wissen nicht, in welchem dieser Jahre Bischoff den Hauptteil seiner Arbeit verfaßt hat. Aus demselben Grund ist auch unsicher, ob der Fund von Wagner „vor sechs Jahren“ das Jahr 1850 oder 1851 betrifft.

Faktencheck

  • Die Wiederentdeckung von Arctia flavia gelang Wagner um 1850/1851 und Bischoff und Pfaffenzeller fanden sie erst 1854. Bischof konnte also gar nicht „bis in die vierziger Jahre einen Preis von ca. Fr. 50 —“ dafür fordern, geschweige denn „allein den Schmetterling liefern“.

Wahr ist, daß J. G. Bischoff neben seinem Lehrerberuf auch als Naturalienhändler tätig war und ursprünglich eine Laufbahn als Kaufmann angestrebt hatte. In seinem Nekrolog wird berichtet, daß er „in spätern reifen Jahren oftmals sein Bedauern darüber ausdrückte, dass es ihm nicht vergönnt gewesen sei, sich dem Handelsstande zu widmen“:

„Schmetterlings- und Käfersammler müssen bekanntlich, um ihre Sammlungen zu erweitern und zu ergänzen, zum Tausch und Handel ihre Zuflucht nehmen, und so sehen wir auch unsern Freund Bischoff in dieser Richtung eine energische Thätigkeit entfalten, ja es scheint, als ob der in ihm noch schlummernde kaufmännische Geist noch nicht ganz zur Ruhe gekommen wäre, denn nicht nur Schmetterlinge und Käfer, auch Schnecken, Conchylien, ja selbst ethnographische Gegenstände, Waffen u. dergl. zog er in den Bereich seiner merkantilisch wissenschaftlichen Thätigkeit.“ (Anonymus 1881)

  • Angesichts der Probleme und Verluste bei den Zuchten im Flachland darf man bezweifeln, ob sich die Alpenreisen und Arctia-flavia-Zuchten trotz der hohen Preise der Falter finanziell lohnten, geschweige denn ob man allein damit ein „anständiges Vermögen“ machen konnte, wie K. L. unterstellt. Falls Bischoff mit seinem Naturalienhandel gut verdient hat, dann gewiß nicht allein durch Arctia flavia.
  • Das gemeinschaftliche Sammeln und der Austausch von Zuchtmaterial zeigen, daß Bischoff und Pfaffenzeller weder verfeindet waren noch besonders eifrig konkurrierten.

Ob einer von den beiden in späteren Jahren tatsächlich verdrehte Versionen der Ereignisse erzählt hat oder ob K. L. oder sein Vater oder irgendein Dritter diese Geschichte komplett erfunden hat, läßt sich wohl nicht klären. Bischoff und Pfaffenzeller sind beide im Jahr 1880 gestorben, Freyer starb 1885, Moritz Wagner erschoß sich 1887; also gab es 1888 keinen direkt Beteiligten mehr, der widersprechen konnte. Herr K. L. dürfte jedenfalls guten Grund gehabt haben, nur seine Initialen zu verwenden – wenn es denn tatsächlich seine wahren Initialen sind. Als Anekdote klingt die Erzählung gut und ist sicher gern weitererzählt worden, aber Peter Marmet und Jürg Schmid waren mit ihrem Urteil „fast unglaubliche Geschichten“ auf dem richtigen Weg. Man muß nur noch das „fast“ streichen, dann paßt es genau.

Literatur
Anonymus (1881): J. G. Bischoff. – Bericht des Naturhistorischen Vereins in Augsburg, 26: 184-185.  Online
Bischoff, J. G. (1857): Eyprepia flavia. – Berichte des naturwissenschaftlichen Vereins Augsburg, 10: 43-48, 1 Taf.  Online
Freyer, C. F. (1854): Neuere Beiträge zur Schmetterlingskunde mit Abbildungen nach der Natur. Band 7, Heft 106. – Augsburg (Rieger). S. 47-54, Taf. 626-630.
Freyer, C. F. (1856): Neuere Beiträge zur Schmetterlingskunde mit Abbildungen nach der Natur. Band 7, Heft 115. – Augsburg (Rieger). S. 125-132, Taf. 671-675
Marmet, P. & Schmid, J. (2000): Arctiidae – Bärenspinner. S. 581-744. – In: Pro Natura (Hrsg.): Schmetterlinge und ihre Lebensräume. Arten ● Gefährdung ● Schutz. Schweiz und angrenzende Gebiete. Band 3. – Egg (Fotorotar). XII + 914 S.
Pfaffenzeller, F. (1857): Ueber Euprepia flavia. Ein Brief an Professor Hering in Stettin. – Entomologische Zeitung herausgegeben von dem entomologischen Vereine zu Stettin, 18: 84-90, 1 Taf.  Online
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