Schmetterlingskunde für Anfänger – Sitzwarte oder Fraßpflanze?

Warum es wichtig ist, genau hinzuschauen

Bei vielen Arten sind die Nahrungspräferenzen der Raupen noch ungenügend bekannt. Deshalb ist es sinnvoll und hilfreich, die Fraßpflanzen zu dokumentieren. Außerdem ist die Nahrungspflanze natürlich eine Hilfe bei der Bestimmung von Raupen.

Bei Raupenfunden ist es besonders wichtig, zu unterscheiden,
● ob die Raupe an einer bestimmten Pflanze tatsächlich gefressen hat (Nahrungspflanze!) bzw. ob wenigstens frische Fraßspuren in unmittelbarer Nähe sind (wahrscheinliche Nahrungspflanze), oder
● ob sie nur darauf gesessen hat (Sitzplatz!) bzw. durch die Vegetation gelaufen/geklettert ist und die Pflanze nur begangen hat, oder
● ob sie sich von einer darüber oder daneben wachsenden Pflanze (Staude, Busch, Baum) wegen Störung abgeseilt oder fallen gelassen haben könnte (Fluchtweg), oder
● ob sie erwachsen und auf der Suche nach einem Verpuppungsplatz ist, oder
● ob sie am Boden unter oder nahe einer Pflanze oder zwischen deren Blättern geruht hat (Tagesversteck!).

Im Pflanzengewirr der niedrigen Vegetation kann es schwierig sein, genau zu identifizieren, was eine Raupe gefressen hat. Schon beim bloßen Annähern stört man die Raupe häufig, so daß sie im Fressen innehält, und wenn man dann noch ein paar Pflänzchen zur Seite biegt, um freies Foto-Schußfeld zu haben, hat man manchmal die Nahrungspflanze aus dem Weg geräumt. Eine Raupe kann auf einem Grashalm sitzen und an einer daneben wachsenden Blütenpflanze fressen oder umgekehrt. Sie könnte auch bei der letzten Windböe von einem Baum gefallen sein; deshalb ist es hilfreich, sich bei unbekannten Raupen zu merken, welche Bäume und Gebüsche in unmittelbarer Nähe stehen und ob etwa ein Gewitter oder Sturm vorangegangen ist.
Vor der Verpuppung legen manche Raupen beträchtliche Strecken zurück, bevor sie sich für eine geeignete Stelle entscheiden. Über die Straße laufende Raupen gehören meistens zu dieser Kategorie. Manchmal wechseln sie vorher die Farbe, zum Beispiel von grün zu braun, wenn sie die Pflanze verlassen und sich auf den Boden begeben. Bei gemeinschaftlich lebenden Raupen, etwa manchen Nymphaliden wie Trauermantel, Tagpfauenauge, Kleiner und Großer Fuchs und Verwandte, dient dieses Verhalten auch zur Feindvermeidung, damit ein potentieller Freßfeind oder Parasitoid, der eine Puppe aufgespürt hat, nicht auch gleich alle anderen in der näheren Umgebung findet.
Parasitierte Raupen im Endstadium sitzen häufig ohne Nahrungsaufnahme offen an Pflanzen, die nicht ihre Nahrungspflanzen sind. Die Parasitierung erkennt man oft nur, wenn man sie mitnimmt.

Pflanzenbestimmung

Die oft gehörte Ausrede „Mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus“ gilt im digitalen Zeitalter nicht mehr! Wer nicht in der Lage ist, eine Pflanze zu identifizieren, hat verschiedene Möglichkeiten, trotzdem zu einer Bestimmung zu gelangen. Es gibt Apps zur Pflanzenbestimmung, die zum Teil recht gut funktionieren, etwa PlantNet und Flora incognita. Dafür müssen Sie nur einige Fotos machen (Gesamtansicht der Pflanze und Detailfotos von Blüte und Blatt – falls sie blüht). Außerdem gibt es immer noch gute Bestimmungsbücher – für alle Benutzer, die auch selber etwas über Pflanzen lernen möchten. Versagen die Apps oder die Bücher, sollte man unbedingt einen Herbarbeleg mitnehmen, den man später bestimmen lassen kann. Das ist nicht schwierig: die Pflanze bzw. Teile davon werden zwischen Papier gelegt, gepreßt und getrocknet. Verzichtet man auf einen Herbarbeleg, dann sollte man wenigstens gute Fotos von allen wesentlichen Teilen der Pflanze machen.

Befressene Pflanzenteile

Oft haben Raupen eine Vorliebe für bestimmte Pflanzenteile; nicht wenige Arten sind sogar darauf angewiesen, beispielsweise an den Blüten oder in den Früchten fressen zu können, etwa die Blütenspanner (Eupithecia) oder die Nelkeneulen (Hadena). Auch hier geht nichts über die direkte Beobachtung. Der häufigste Fall ist der Fraß an Blättern, so häufig, daß meist gar nicht erwähnt wird, daß es die Blätter sind, die befressen wurden. Aber auch hier kann es Einschränkungen geben. Manche Arten können als Eiraupe und Jungraupe nur an frischen, weichen Blättern fressen, manche gehen erst dann zu den Blättern über, wenn die nährstoffreichen Blüten oder Früchte, die ihre bevorzugte Wahl sind, nicht mehr da sind. Manche Arten leben im Stengel, dessen Mark sie fressen, andere im Kambium verholzter Pflanzen oder sogar im Holz selber. Manche leben im Boden, wo sie Wurzeln fressen, ähnlich wie Engerlinge, andere verstecken sich nur tagsüber im Boden und kommen nachts heraus, um grüne Pflanzenteile zu fressen.

Auch Vegetarier werden ihrer Kost manchmal untreu. Birgitt Piepgras erwischte diese Axylia-putris-Raupe auf ihrer Terrasse dabei, wie sie sich an einer – bereits toten – Schwebfliege verging. Foto © Birgitt Piepgras.

Nahrungsquellen jenseits der Pflanzen

Nicht alle Raupen sind auf Farn- und Blütenpflanzen angewiesen. Erstaunlich oft kommen andere Nahrungssubstrate als Pflanzen vor. Es gibt Raupen, die an Algen, an Flechten oder an Moosen leben. Es gibt Pilzfresser. Es gibt Detritusfresser, die mit vertrocknenden oder verfaulenden Pflanzenteilen zurechtkommen. Es gibt die Gilde der Keratinfresser, die an Haaren und Horn leben, beispielsweise in Vogelnestern. Hierher gehören auch die Kleidermotten, denen der Sprung in die ökologische Nische der menschlichen Kleiderschränke geglückt ist. Es gibt die Wachsmotten, die entgegen ihrem deutschen Namen zu den Zünslern gehören und in Hummelnestern oder Bienenstöcken leben und sich von deren Brut ernähren.

Kannibalen und Prädatoren

Es ist eine altbekannte Tatsache, daß manche Schmetterlingsraupen, wenn sie in der Zucht in zu großer Zahl zusammen gehalten oder unzureichend gefüttert werden, andere Raupen, auch solche derselben Art, angreifen und verzehren. Einige, darunter Cosmia trapezina und Eupsilia transversa, tun das auch im Freiland, selbst wenn geeignete Nahrungspflanzen zur Verfügung stehen. Unter Züchtern haben sich solche Arten den Namen „Mordraupen“ eingehandelt. Gelegentlich können auch andere, normalerweise friedliche Raupen Artgenossen angreifen, beißen oder verzehren. Das kommt bei Zuchten vor, wenn zu viele Raupen in einem zu kleinen Behälter gehalten werden – vor allem bei Arten, die in der Natur als Einzeleier abgelegt werden – oder wenn das Futter knapp, ungeeignet oder zu trocken ist. Beim Sammeln sollten Raupen von Cosmia trapezina und Eupsilia transversa nur einzeln untergebracht werden. Die E.-transversa-Raupen sind leicht zu erkennen, aber unerkannte C. trapezina können eine Sammelschachtel schon mal in ein kleines Schlachtfeld verwandeln. Jedem Lepidopterologen dürfte es schon passiert sein, daß man zehn kleine Räupchen einsammelt und wenn man abends zuhause ankommt, sitzt nur noch eine große Cosmia trapezina-Raupe im Behälter und leckt sich verschmitzt die Mandibeln.
Und es gibt spezialisierte Arten, deren Raupen Schildläuse fressen, so die Eulenfaltergattung Coccidiphaga (Name!). Die Raupen der Epipyropidae leben an und von Zikaden. Einige hawaiianische Eupithecia-Arten sind zu Ansitzjägern geworden und erbeuten Drosophila-Fliegen (Hier gibt es You-Tube-Videos davon: https://www.youtube.com/watch?v=K5qijI–v9E  und  https://www.youtube.com/watch?v=zAiMzeOfOgA). Eine ganze Reihe von Bläulingsraupen leben in mehr oder weniger starker Bindung mit Ameisen und ernähren sich, wenn sie ins Ameisennest eingetragen werden, von der Ameisenbrut. Das verblüffendste Beispiel sind wohl die – ebenfalls hawaiianischen – Raupen von Hyposmocoma molluscivora (Cosmopterygidae) und drei weiterer Arten dieser großen und ökologisch diversen Gattung, die sich auf kleine Gehäuseschnecken spezialisiert haben. Es sind die einzigen Schneckenfresser unter den Schmetterlingen. Die Raupen sind selber Sackträgerraupen, aber trotzdem sehr mobil: Sie suchen ruhende Schnecken und spinnen sie zunächst mit Gespinstfäden am Untergrund fest, damit die Schnecke sich nicht mehr bewegen kann. Dann entern sie in aller Ruhe das Schneckenhaus und verspeisen die Schnecke (https://www.youtube.com/watch?v=cIarjWaXC4Y).

Wir merken uns: Nichts geht über die eigene Beobachtung.
● Bevor man ein Foto macht und die Raupe damit womöglich stört, sollte man schauen, ob sie gerade wirklich an der Pflanze frißt, an der sie sitzt.
● Optimal sind gute Fotos von Raupe und Pflanze: die Raupe mindestens in Rücken- und Seitenansicht, so daß man die Beine zählen kann und die Pflanze aus verschiedenen Blickwinkeln und in allen wichtigen Teilen (Gesamtansicht, Blatt und falls vorhanden Blüte oder Frucht).
● Wenn Sie die Pflanze nicht bestimmen können, nehmen sie möglichst einen Herbarbeleg mit.

Dann sind Ihre Fotos und Beobachtungen nicht nur für Sie allein von Bedeutung, sondern können dazu beitragen, unser Wissen um die Nahrungsbiologie der Schmetterlinge zu erweitern und zu vertiefen.

Wer seine Schmetterlings- und Raupenbeobachtungen nicht nur fotografisch dokumentiert, weiß, daß Fundort, Datum und Höhe zu jeder Beobachtung dazugehören. Die Individuenzahl ist wichtig, um die Bedeutung der Nahrungspflanze für die betreffende Schmetterlingsart einzuschätzen [1]. Wenn Sie selber kein Experte sind, dann gehört auch der Name des Lepidopterologen, der Ihnen die Raupe bestimmt hat und gegebenenfalls der des Botanikers, der die Nahrungspflanze bestimmt hat, zu den obligatorischen Mindestinformationen.

Entnahme eines Herbarbelegs an einer Weinbergsmauer. Hier nagen Bryophila ravula-Raupen an Krustenflechten.

Herbarbelege können manchmal Schwierigkeiten machen. Flechten und Algen muß man meistens mit einem Stück des Substrats entnehmen, auf dem sie wachsen. Versucht man, sie abzuschaben, hat man nur undefinierbare Brösel in der Hand. Das Werkzeug der Wahl sind an Felsen und Steinen deshalb Hammer und Meißel. Gehören die Steine zu einer Mauer, womöglich gar einer denkmalgeschützten, dann hat man ein Problem. Nennen Sie mich übervorsichtig, aber ich würde zögern, vom Nachbardach einen Ziegel zu entnehmen, auf dem das Nahrungssubstrat einer Nyctobrya-muralis– oder einer Eilema-Raupe wächst. Ohnehin muß man da erst einmal sehr genau hinschauen, um sicher zu sein, was die Raupe wirklich frißt. Bei den im Moos lebenden Scopariinae-Raupen wird heute noch darüber diskutiert, ob sie wirklich das Moos oder vielleicht einen Algenbelag auf dem Moos fressen.

Die „Futterpflanze“ – ein terminologisches Problem

Vielleicht haben Sie bemerkt, daß ich den Begriff „Futterpflanze“ vermieden habe, der in der lepidopterologischen Literatur allgegenwärtig ist. Das hat seinen Grund. Dieser Begriff wurde nämlich – und wird vielfach auch heute noch – unterschiedslos und unkritisch sowohl für Nahrungspflanzen im Freiland als auch für in Gefangenschaft gereichte Fütterungspflanzen verwendet. Im Freiland wählt das Falterweibchen seine Eiablagepflanze, die dann als Raupennahrung dient oder die Raupe wandert unter Umständen lange Strecken bis zu ihrer bevorzugten Nahrung. Unter Gefangenschaftsbedingungen haben Raupen keine Wahl, als zu fressen, was ihnen vorgesetzt wird, auch wenn es Pflanzen sind, die sie im Freiland nicht anrühren würden – und oft genug verhungern sie, wenn ihr Gefängniswärter ihnen nicht die geeignete Pflanze reicht.
Für Arten, die in der Krautschicht leben, wird in der Literatur überdurchschnittlich häufig Löwenzahn (oder Ampfer oder Wegerich) angegeben – auch bei Arten, die in Lebensräumen vorkommen, wo es kaum einen oder gar keinen Löwenzahn gibt. Solche Angaben stammen dann oft aus Zuchten, bei denen man den Raupen vorgesetzt hat, was im Garten und im Umfeld des Wohnhauses leicht zu pflücken ist. Auch baumlebenden Raupen wird in der Zucht oft das gereicht, was für den Züchter erreichbar ist – und findet dann als „Futterpflanze“ Eingang in die Literatur. Ob eine Raupe oder ein Falterweibchen diese Pflanze aber auch im Freiland wählen würde, bleibt zumindest unsicher. Wegen dieser Mehrdeutigkeit hat Erwin Rennwald schon vor Jahren vorgeschlagen, im Zusammenhang mit Schmetterlingsraupen auf den Begriff „Futterpflanze“ zu verzichten und stattdessen eine eindeutigere Bezeichnung zu verwenden, wenn es sich um eine im Freiland dokumentierte Nahrungspflanze handelt. Beispielsweise Nahrungspflanze oder Wirtspflanze (Wenn man sich ganz unmißverständlich audrücken möchte, kann man auch Freiland-Nahrungspflanze sagen). Versuchen Sie, sich die „Futterpflanze“ abzugewöhnen. Es dauert einige Zeit, aber es geht. Ich habe es auch geschafft. 🙂


[1] Dabei ist zu beachten, daß mehrere gleichaltrige Raupen an einer Pflanze von der Ablage desselben Weibchens stammen können, also nur die Präferenzen eines einzigen Individuums dokumentieren. Dies gilt umso mehr bei Arten, die ihre Eier in Gelegen absetzen. Findet man dagegen Raupen in unterschiedlichen Größen und Stadien, stammen diese wahrscheinlich von mehreren Weibchen, was der Beobachtung mehr statistisches Gewicht verleiht.
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