Upflamör

Entdeckungsreisen in die Nomenklatur  –
unerklärliche und „falsche“ Namen

Nomina absurda insectis plurimis ab idiotis imposita sunt.
Johann Christian Fabricius, Philosophia Entomologica (1778)

Wer aus der Gegend um Sigmaringen oder Riedlingen stammt, kennt das kleine Dörfchen mit dem seltsamen Namen Upflamör. Auf meinen jugendlichen Sammeltouren durch die Schwäbische Alb habe ich mich oft über diesen un-schwäbischen Namen gewundert. Durch Zufall erfuhr ich später die Entstehungsgeschichte des Worts. Es wird überliefert, daß bei der großen württembergischen Landesvermessung 1818-1840 nicht genügend ausgebildete einheimische Geometer zur Verfügung standen. Daher ersuchte die Katasterkommission des Königreichs Württemberg das Königreich Preußen um Unterstützung, das auch bereitwillig einige preußische Landvermesser zur topographischen Entwicklungshilfe in den Südwesten beorderte. Und so kam es, daß sich eines schönen Tages ein Berliner oder Brandenburgischer Geometer dem kleinen Dörflein Unterpflummern auf der Schwäbischen Alb näherte. Da es Erntezeit war, befand sich fast die gesamte Bevölkerung des 50-Seelen-Fleckens auf den Feldern und der Berliner soll im Ort nur eine alte Frau angetroffen haben. Diese fragte er wie gewohnt nach dem Namen des Dorfs – Ortsschilder gab es damals noch nicht – und notierte pflichtbewußt, was er verstanden hatte. Als Preuße dürfte er ohnehin mit dem Schwäbischen seine Schwierigkeiten gehabt haben und vielleicht war die Einheimische ein zahnloses altes Weiblein, das nicht mehr sehr verständlich formulierte – jedenfalls wurde auf diese Weise die Schreibung Upflamör geboren, die von da ab in allen amtlichen Karten und Ortsverzeichnissen zu finden war, sich nicht wieder ausrotten ließ und schließlich nolens volens auch im Ort selbst übernommen wurde. Johann Balhorn selig hätte die Zwangslage des preußischen Geometers sicher gut nachempfinden können.

Ganz so idyllisch wie sich der Bezirksgeometer Josef Obermaier mit Frau, Söhnchen und Hundchen auf diesem Gemälde von 1836 portraitieren ließ, dürfte der Alltag der Landvermesser selten ausgesehen haben. Gearbeitet wurde auf dem dreibeinigen Meßtisch mit Kippregel und Bussole, und die entstandenen Topographischen Karten 1:25.000 nannte man Meßtischblätter (heute TK 25).

„Falsche“ Namen, nämlich falsch geschriebene, gibt es auch im Tier- und Pflanzenreich zuhauf. Das vielleicht klassischste Beispiel ist der chinesische Baum Ginkgo, der eigentlich Ginkyo heißt [1]. Als Engelbert Kaempfer im 17. Jahrhundert die erste Abbildung und Beschreibung des Baums schuf, die in Europa bekannt wurde, unterlief ihm bei der Transliteration der japanischen Form des Namens ein Schreibfehler, durch den der Ginkyo zum unaussprechlichen „Ginkgo“ wurde [2].

Unerklärliche und „falsche“ Namen bei den Schmetterlingen

Der ärgerlichste Falschname unter den europäischen Schmetterlingen ist sicher der von Coenonympha oedippus, der natürlich oedipus heißen will. Nach den Nomenklaturregeln kann ein falsch geschriebener Name aber nur dann korrigiert (im Nomenklatur-Jargon: emendiert [3]) werden, wenn es in der Urbeschreibung selbst einen klaren Hinweis darauf gibt, welche Schreibung tatsächlich beabsichtigt worden war. Wenn jemand beispielsweise schreibt, er benenne die neue Art nach Herrn Linnaeus und nennt sie im folgenden Satz Papilio kinnaei, dann ist dies ein offensichtlicher Schreib- oder Druckfehler und muß nach den Regeln zu linnaei korrigiert werden [4]. Wenn jedoch der Text keine Namenserklärung enthält, dann darf auch nicht korrigiert werden – es könnte ja wirklich einen Herrn Kinnaeus geben, selbst wenn ihn niemand außer dem Autor kennt. Für Papilio „oedippus“ gab Fabricius keine Erläuterung zur Namensherkunft, deshalb darf der Name nicht korrigiert werden [5]. Trotzdem ist klar, daß er Ödipus meinte, denn einen Ödipus mit doppeltem p hat es nie gegeben. Auch seine Gattungsgenossen sind nach Personen der griechischen und römischen Mythologie oder Geschichte benannt: nach Pamphilos, Hero, Iphis, Tiphon, Tullia, Leander; es ist also klar, daß nur der Ödipus der klassischen Antike gemeint gewesen sein konnte.

Benennungen nach Personen aus der antiken Mythologie und Geschichte waren im 18. und 19. Jahrhundert bei den Tagfaltern an der Tagesordnung, ja geradezu der Standard, so daß kein Autor es für nötig hielt, Erklärungen hinzuzufügen wie „Ich nenne diese Art nach Machaon,“ „Ich nenne diese Art nach Podaleirios,“ „nach Arion,“ „nach Io,“ „nach Circe,“ „nach Pandora,“ „nach Galateia“ oder „nach Apollo“. Das wäre von den Zeitgenossen nicht nur als überflüssig sondern womöglich als beleidigend empfunden worden, hätte es doch signalisiert, daß der Autor seinen Lesern unterstelle, keine Bildung genossen zu haben. (Auf der anderen Seite war gerade Fabricius für ausgefallene, schwer interpretierbare Namensschöpfungen bekannt. Ich werde in einem späteren Beitrag darauf zurückkommen.)

Es ist wohl eine Frage der Wahrnehmung: Spinnennetz oder Landkarte oder Fischnetz oder abstrakte Kunst oder …? – Foto © Sybille Przybilla

Dann denkt man an Hübners Gattung Araschnia, die er für den Landkärtchenfalter Araschnia levana aufstellte. Gemeint war eigentlich eine Schreibweise ohne S, abgeleitet von Arachne, griechisch für Spinne, wegen der Zeichnung der Flügelunterseite, die manche Leute an ein Landkartenmuster, andere, so wie Hübner, an ein Spinnennetz erinnert.

Sprachkundige Entomologen korrigieren gelegentlich  Falschschreibungen, und wenn es nur bei der Etikettierung ihrer eigenen Sammlung ist: Beschriftung eines Kastens der Tagfaltersammlung von Colin W. Wyatt.

Auch die Zitronenfaltergattung Gonepteryx ist falsch gebildet. Es gibt verschiedene Theorien darüber, wie der Name eigentlich lauten und was er bedeuten sollte. Der zweite Wortteil bereitet keine Probleme: Er ist von pteryx (ἡ πτέρυξ = griech.: Flügel) abgeleitet. Sie kennen ihn aus anderen Zusammenhängen, z. B. vom Archaeopteryx oder von Schmetterlingsnamen wie Agonopterix, Micropterix, Scotopteryx, Lampropteryx, Scoliopteryx. Schwierig wird es beim ersten Wortbestandteil. Ist er von gony (τό γόνυ, -ατος = griech.: Knie) abgeleitet? Der „Knieflügler“? Dann sollte der Name in Zusammensetzung Gonatopteryx lauten. Einleuchtender erscheint die Ableitung von gonía (ἡ γωνία, -ας = griech.: Ecke, Winkel, Spitze) [6]. „Eckflügler“, Spitzenflügler. Hier müßte die Zusammensetzung, beruhend auf dem Genitiv gonias, Goniapteryx lauten. Man hat im 19. Jahrhundert Verbesserungen wie Gonopteryx, Gonoptera oder Goniopteryx vorgeschlagen, aber diese Bildungen passen allenfalls zu gonos (ὁ γόνος = griech.: Abkunft, Geburt, Zeugung) und das ergibt keinen rechten Sinn. Einig sind sich die meisten Sprachler, daß Dr. Leach mit „Gonepteryx“ danebengegriffen hat.

Selbst wenn wir genau wüßten, wie Leach den Namen tatsächlich gemeint hat: Auch hier erlauben die Nomenklaturregeln keine Änderung des Namens. Das ist prinzipiell gut so, denn sonst könnten sich linguistische Diskussionen über den Sinn eines Namens entwickeln, die ebenso end- wie ergebnislos verlaufen. Es könnten sich – und das ist in der Vergangenheit bei manchen Namen tatsächlich geschehen – Fraktionen bilden, die auf der Richtigkeit ihrer Interpretation beharren, so daß der Name neben der ursprünglichen Schreibweise in einer oder mehreren „berichtigten“ Schreibweisen in der Literatur erscheint. In solchen Zweifelsfällen ist es besser, die unrichtige Wortbildung stehenzulassen.

Aus diesem Grund enthalten die Nomenklaturregeln einen Passus, der ausdrücklich besagt: „Incorrect transliteration or latinization, or use of an inappropriate connecting vowel, are not to be considered inadvertent errors.“ (Art. 32.5) Ungeschickte oder falsche Latinisierung oder Transkription oder der Gebrauch eines falschen Fugenvokals sind also kein Grund, die Schreibweise zu berichtigen.

Tethea or f. albingensis Warnecke, 1908
Den Namen für die melanistische Form von Tethea or hat Georg Warnecke (1908: 8) folgendermaßen erklärt: „Nach ihrem Vorkommen an der Unterelbe, im alten Nordelbingen, nenne ich sie albingensis.“

Mehrere Autoren haben den Namen zu „albigensis“ verballhornt. Bei Weidemann & Köhler (1996) findet sich der Name einmal richtig (im Text) und einmal falsch geschrieben (in der Bildlegende). Im Internet bemühen sich die Wikipedia und ihre unzähligen Klone nach Kräften, die falsche Schreibweise zu verbreiten, aber auch auf manchen privaten Webseiten findet sie sich.

Sesia schmidtiiformis Freyer, 1836
Dieser Name hat Christian Freyer seinerzeit einigen Spott eingebracht, denn er bedeutet „die Schmidt-gestaltige Sesie“ oder „die wie Schmidt aussehende Sesie“. Freyer wollte die Art dem Entomologen Ferdinand Schmidt widmen und hätte sie schmidti oder schmidtii taufen sollen. Seine Verehrung der alten Tradition, Glasflügler mit der Namensendung –formis zu belegen, ging hier eine unglückliche Verbindung mit defizitären Lateinkenntnissen ein.

Der durch diesen Namen Geehrte war übrigens der bekannte Kommerzienrat und Coleopterologe Ferdinand Joseph Schmidt aus Siska bei Laibach, der im dortigen Karst zahlreiche höhlenbewohnende (cavernicole) Käfer entdeckte und deshalb auch als „Höhlen-Schmidt“ bekannt war. Nicht zu verwechseln mit dem Jenenser Forensiker Schmidt, den man gemeinhin den „Leichen-Schmidt“ nannte, was seinen Töchtern die wenig schmeichelhafte Benennung „die Leichen-Mäuse“ einbrachte, wie wir aus dem privaten Briefwechsel von Ernst und Agnes Haeckel wissen.

Hofmannophila Spuler, 1910
„Weild. Dr. Ottm. Hofmann“ war die knappe Erklärung, die Arnold Spuler dem Gattungsnamen Hofmannophila (für die Samenmotte H. pseudospretella) mit auf den Weg gab. Nun bedeutet –phila aber bekanntlich „die -liebende.“ So sind die Deilephila-Arten die „abendliebenden“, die Lygephila-Arten sind „wiesenliebend“, und die Philosophen lieben angeblich die Weisheit (sophia). Hofmannophila ist demnach „die Hofmann Liebende“. War das beabsichtigt und steckt da vielleicht eine Geschichte dahinter? Spuler hat es leider nicht erläutert.

Pyrgus warrenensis (Verity, 1928)
Ein ganz übler sprachlicher Klops offenbart sich in dem Dickkopfnamen Pyrgus warrenensis. Die lateinische Endung –ensis (m., f.) bzw. –ense (n.) wird bei geographischen Herkunftsangaben, also bei Orts- und Gebietsnamen verwendet und bedeutet soviel wie „vorkommend in“,  „stammend aus“. Es ist also ein Toponym. Sie kennen es vom Homo neanderthalensis und bei Tier- wie Pflanzennamen kommt es recht häufig vor.
— Colias alfacariensis ist die Colias aus der Sierra de Alfacar,
— Hipparchia maderensis ist die Hipparchia von Madeira,
— Aporophyla lueneburgensis ist die Aporophyla aus Lüneburg,
— Zygaena nevadensis ist die Zygaena aus der Sierra Nevada,
— Coenonympha rhodopensis ist die Coenonympha aus den Rhodopen, usw.
Roger Verity wollte den britischen Hesperiiden- und Erebienspezialisten B. C. S. Warren ehren, auf den er sich in der Beschreibung mehrfach bezieht. Doch der Name, den er da fabriziert hat, bedeutet soviel wie „der in (oder an oder auf) Warren vorkommende Würfeldickkopffalter“. Verity hatte ohnehin ein problematisches Verhältnis zur lateinischen und griechischen Sprache; im selben Artikel beschrieb er ein Taxon namens melanoposmater und in anderen Veröffentlichungen prägte er Namen wie caeruleossmar, fuscensthetis und polyphemusovalisquamosa.

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Die eingangs erwähnte Upflamör-Ableitung hat einiges Anekdotische; ich kann nicht garantieren, ob sie so stimmt. Der ursprüngliche Ortsname wird nämlich auch als Aufpflummern statt Unterpflummern angegeben, und damit läßt sich die sprachliche Evolutionsreihe Aufpflummern –> Ufpflummern –> Upflummere –> Upflamör bilden, die nicht so plakativ, aber wohl realistischer ist als die Anekdote.

Auf jeden Fall ganz oben in meiner Liste kurioser Ortsnamen. Hier der Eintrag in der Karte des Königreichs Württemberg (1821-1851). Später wurde das oe zu ö vereinfacht.

Außerhalb Schwabens war der Name Upflamör praktisch unbekannt, bis ein Szenecafé in Berlin-Kreuzberg eröffnete, das sich „San Remo Upflamör“ nennt. Es wird betrieben von Dominik Bausinger, einem zugewanderten Schwaben und Sohn des kürzlich verstorbenen Tübinger Kulturwissenschaftlers Prof. Hermann Bausinger, dem das Verdienst gebührt, die „Volkskunde“ aus der noch stark von der Nazizeit geprägten Niederung herausgeführt und unter der Bezeichnung Empirische Kulturwissenschaften gründlich modernisiert zu haben. Dominik Bausinger verbrachte Jugendfreizeiten in Upflamör und hat sein Café nach Orten benannt, die für ihn Bedeutung haben. So ist der Name in gewisser Weise dorthin zurückgekehrt, wo er – jedenfalls der Legende mit dem Berliner Geometer zufolge – seinen sprachlich-mißverständlichen Ursprung genommen hat.
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Literatur
Emmet, A. M. (1991): The scientific names of the British Lepidoptera. Their history and meaning. – Colchester (Harley). 288 S.
Warnecke, G. (1908): Cymatophora or F. nov. ab. albingensis. – S. 8. – In: Anonymus: Neue und seltene Arten der Lepidopterenfauna von Hamburg-Altona. Mitteilungen aus dem Entomologischen Verein für Hamburg-Altona. – Entomologische Zeitschrift, 22: 7-8.
Weidemann, H.-J. & Köhler, J. (1996): Nachtfalter. Spinner und Schwärmer. – Augsburg (Weltbild-Verlag). 512 S.

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[1] Von „gin“ silber und „kyo“ Aprikose; bezieht sich auf die silbrigen Samenanlagen.
[2] Vielleicht war es auch ein Versehen des Setzers, denn ein handschriftliches y und g können sehr ähnlich aussehen.
[3] Als „Emendation“ bezeichnet man im Nomenklatursprech eine beabsichtigte Änderung eines bestehenden wissenschaftlichen Namens – im Gegensatz zu einer versehentlichen Falschschreibung, die sich lapsus calami nennt.
[4] Das wäre eine sogenannte „berechtigte Emendation“.
[5] Eine Änderung der Schreibweise zu oedipus wäre im Sinne der Nomenklaturregeln eine „unberechtigte Emendation“.
[6] Das vermutete auch Emmet (1991: 146), ohne auf die falsche Grammatik näher einzugehen.

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Eine Fortsetzung zu diesem Thema folgt demnächst (das bedeutet bei mir „irgendwann einmal“) unter dem Titel „Inagaddadavida“.

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