Faunistischer Betrug

Ach, das waren noch schöne Zeiten, als ich noch alles glaubte, was ich hörte.
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Die Faunistik ist ein weites Feld und ein sehr unübersichtliches dazu. Die Bestimmungsprobleme sind bei schwierigen Arten oft enorm und stellen den Ungeübten manchmal vor unüberwindliche Hürden. Faunisten sind darauf angewiesen, taxonomisch schwierige Fälle von Spezialisten der jeweiligen Familien bestimmen oder nachbestimmen zu lassen, denn niemand kann sich in allen Gruppen gleich gut auskennen, auch die Taxonomen nicht. Unter diesen Umständen sollte man genau überlegen, ob man jemandem „faunistischen Betrug“ vorwerfen darf. Dahinter muß ja dann eine Absicht stehen, nicht nur Bestimmungsschwierigkeiten, Wunschdenken, Selbstüberschätzung, Schluderei, Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit. Die Gleichgültigkeit kann allerdings in bestimmten Fällen Ausmaße annehmen, daß man schon von Fahrlässigkeit sprechen darf.
Im Interesse einer seriösen und nachvollziehbaren Faunistik muß es gestattet sein, sowohl die eindeutigen Betrugsfälle als auch all die kleinen Irrtümer und Unachtsamkeiten, die zu falschen Verbreitungsangaben in der Literatur führen, klar und deutlich anzusprechen und zurückzuweisen oder zumindest begründete Zweifel zu formulieren. Denn die Faunistik liefert die Grundlagendaten für den Naturschutz und Naturschutz kostet Geld. Auch die faunistische Forschung selbst kostet natürlich Geld, was von den Behörden gerne übersehen wird, weil es meistens ehrenamtlich tätige Personen sind, die faunistisch arbeiten. Aber gerade wenn ich ehrenamtlich arbeite und an eine Stelle fahre, wo früher angeblich eine Rote-Liste-Art gefunden wurde und einen Tag oder eine Nacht lang (oder länger) danach suche, dann kann es mir keineswegs gleichgültig sein, ob da eine gefälschte Fundortangabe dahinterstand, so daß ich von vornherein keine Chance auf einen Wiederfund habe.

Dergleichen faunistische Schludereien und Betrügereien pietätvoll zu verschweigen, wie das manche Autoren getan haben, liegt mir nicht, wenn ich auch nicht so weit gehe wie Caesar, der über seinen Anticato das Motto setzte: De mortuo nil nisi malum [Über den Verstorbenen nur Schlechtes (reden)]. Freilich war Caesar in einer Situation, in der er propagandistisch in die Ecke gedrängt zu werden drohte, und die ihn nötigte, genauso propagandistisch zurückzuschlagen. M. Porcius Cato, erzkonservativer Republikaner und in seiner kompromißlosen Ehrenhaftigkeit im Senat der Tugendbold vom Dienst, stand im Bürgerkrieg – wie könnte es anders sein – auf der Seite der Caesargegner. Nach der Niederlage von Thapsus [1] im Frühjahr 46 v. Chr. in Utica [2] eingeschlossen, weigerte er sich verbissen, Caesars Gnadenangebote anzunehmen und zog es vor, sich selbst den Tod zu geben, denn er wollte keine Gnade annehmen müssen von jemandem, dem es nicht zustünde, Gnade zu gewähren. Er stieß sich sein Schwert in den Leib, aber seine Freunde verbanden ihn. Sobald er allein war, riß er sich den Verband von der Wunde und verblutete [3]. „Ich neide dir diesen Tod, denn du hast mir deine Rettung geneidet“ soll Caesar bei der Nachricht von seinem Freitod gesagt haben. Der tote Cato sollte Caesar dann auch gefährlicher werden als es der lebende gewesen war. Durch Ciceros Panegyrikus Cato, dem noch Schriften von M. Iunius Brutus und anderen folgten, zum Märtyrer der Republik hochstilisiert sieht man in ihm bis heute das Idealbild eines tugendhaften, aufrechten Republikaners. Zu Lebzeiten muß er jedoch manchmal etwas realitätsfremd gewirkt haben. „Gewiß, unseren Cato schätze ich nicht weniger als du; aber in seiner anständigen Gesinnung und unerschütterlichen Zuverlässigkeit richtet er bisweilen Unheil in der Politik an. Er stellt Anträge, als ob er sich in Platons Idealstaat und nicht im Schweinestall des Romulus befände“ hatte Cicero im Juni 60 v. Chr. über ihn geschrieben.

Natürlich sollten wir uns nicht Caesars extreme Haltung zu eigen machen. Aber wenn wir faunistische Zweifelsfälle einfach ignorieren und in unseren Publikationen verschweigen, ohne auf die Gründe dafür einzugehen, dann bleibt zwar der Ruf des Verursachers solcher Angaben unangetastet, aber jeder, der die ältere Literatur kennt, wird uns vorwerfen, unsauber gearbeitet und nicht alle Quellen berücksichtigt zu haben. Dann wird so eine Meldung wieder hervorgekramt, vielleicht gar neu publiziert und womöglich für bare Münze gehalten – wenn wir Pech haben mit einem Seitenhieb wie „diesen Nachweis haben Steiner et al. 2014 nicht gekannt“. Das ist auch der Grund dafür, solche Meldungen – wenn sie publiziert sind – in unseren Datenbanken zu behalten, natürlich als falsch markiert, so daß sie weder in Verbreitungskarten noch in Flugzeitdiagrammen berücksichtigt werden. Sie endgültig zu löschen wäre kontraproduktiv, weil dann auch die dazugehörigen Anmerkungen verloren wären, die z.B. Aufschluß darüber geben, von wem und aus welchem Grund eine solche Meldung abgelehnt worden ist.

Als Verfasser faunistischer Werke kennt man seine Gewährsleute meistens ganz gut und kann einschätzen, wer sich mit welcher Schmetterlingsgruppe auskennt und wer weniger gut, wessen Meldungen man ungeprüft übernehmen kann und bei wem eine Nachfrage angebracht ist, wenn schwer bestimmbare Arten gemeldet werden. Das ist gängige Praxis bei der aktuellen Arbeit, ist aber nicht möglich, wenn es sich um historische Angaben handelt, deren Urheber längst verstorben sind und für die auch kein Belegmaterial mehr existiert. Dann muß man anhand der vorliegenden Informationen entscheiden, ob die Waage mehr in Richtung Schluderei oder Fälschungsabsicht ausschlägt. Allermeistens wird man da in dubio pro reo entscheiden, aber es gibt einige Fälle, wo die Umstände eine Betrugsabsicht sehr wahrscheinlich machen. Werden Urheber einer zweifellos betrügerischen Fundangabe darauf angesprochen, gibt es vor allem drei Reaktionen. Entweder es wird empört auf der Meldung beharrt oder es wird eine Fundort- beziehungsweise Etikettenverwechslung vorgeschoben. Es gibt jedoch auch Leute, die ihre Falschmeldung mit einem Schulterzucken und einem Grinsen abtun, so als ob das Ganze keiner ernsthaften Betrachtung wert sei. Da weiß man dann genau: Sämtliche Meldungen dieses Gewährsmanns sollten in der Faunistik besser ignoriert werden.
Gelegentlich trifft man auf Personen mit einer derartigen Selbstüberschätzung, daß ihr Verhalten nur mit dem Dunning-Kruger-Effekt zu erklären ist. Auch hier ist bei der Beurteilung ihrer Meldungen größte Vorsicht geboten.

Auch die nicht naturwissenschaftlich gebildete Öffentlichkeit kennt die berühmten biologischen Fälschungen und Betrugsfälle wie den Piltdown Man, die Manipulationen des „Krötenküssers“ Paul Kammerer oder die „Würzburger Lügensteine“ des Johann Bartholomäus Adam Beringer, die zum Teil beträchtliche publizistische Wellen geschlagen haben. Faunistische Betrügereien gelangten dagegen selten in den Blickpunkt der allgemeinen Öffentlichkeit. Meistens werden sie nur in den Expertenkreisen der betroffenen Tier- oder Pflanzengruppe diskutiert, und auch dort oft nur unter vorgehaltener Hand, solange man über die Motivation des Urhebers nicht im Klaren ist und solange dieser (denn immer sind es männliche Betrüger, nie Betrügerinnen) noch lebt.

Beginnen wir mit einem ornithologischen Fall und arbeiten wir uns dann zur Entomologie vor.

Meinertzhagen
Erst lange nach seinem Tod wurden die ornithologische Diebstähle und Fälschungen des berühmten Colonel Richard Meinertzhagen (1878-1967) aufgeklärt. Seine Berühmtheit gründete sich hauptsächlich auf seine eigenen Memoiren und Anekdoten, die nicht nur geschönt sondern knallhart gefälscht, erfunden und erlogen waren. Darin stilisierte er sich zum Militärstrategen und Meisterspion, obwohl er meistens nur in untergeordneter Funktion tätig war. Die Geheimdienstmitarbeiter durften seinen Lügnereien aber nicht öffentlich widersprechen, jedenfalls nicht zeitnah, weil sie selber zur Geheimhaltung über diese Operationen verpflichtet waren. Meinertzhagens Version der berühmten „Haversack ruse“, einer schon klassisch gewordenen Irreführung der gegnerischen Militärstrategen im 1. Weltkrieg, wird selbst heute noch im Internet propagiert. Schon zu seinen Lebzeiten hatten einzelne Zeitzeugen seinen Münchhauseniaden widersprochen, aber wenig Gehör gefunden. Nach seinem Tod waren es vor allem die Ornithologen, die immer mehr Indizien für aus dem Britischen Museum gestohlene Vogelbälge zusammen-trugen, die umpräpariert und mit falschen Fundortangaben versehen die Grundlage für Meinertzhagens gefälschte faunistische Neunachweise gebildet hatten. Brian Garfield hat 2007 eine unterhaltsame Biographie über Meinertzhagen veröffentlicht. Nun war Garfield kein ausgebildeter Historiker (und auch kein Ornithologe, was zu ein paar fachlichen Mißverständnissen geführt hat); er schrieb hauptsächlich Thriller und Western, aber das mag keine schlechte Grundlage für eine Biographie über einen Münchhausen-Typ wie Meinertzhagen gewesen sein. Ich fand das Buch lesenswert und spannend geschrieben. Lesen Sie mal ins Vorwort oder ins erste Kapitel hier hinein.
In der Wikipedia sorgt heute Meinertzhagens Familie dafür, daß die kritischen Aspekte nicht allzu sehr in den Vordergrund treten, aber die ornithologische Fachliteratur enthüllt das ganze Ausmaß seiner Diebstähle und Fälschungen (Knox 1993, Rasmussen 1998, Rasmussen & Collar 1999, Rasmussen & Prŷs-Jones 2003, Dalton 2005, Seabrook 2006, Olson 2008, Prŷs-Jones, Brooks & Arnold 2009).
Es ist ja im Grunde skurril, wenn jemand Bälge aus einem Museum entwendet, die nach seinem Tod per Testament an ein Museum zurückkommen. Einen ähnlichen Effekt hatte man übrigens in einem deutschen Naturkundemuseum erhofft, wo der ehemalige Leiter der entomologischen Abteilung etliche seltene Parnassius-Belegstücke gepaykullt hatte. Als seine Privatsammlung nach seinem Tod 2008 ans Museum kam, stellte sich leider heraus, daß er die wertvollen Stücke zu Lebzeiten allesamt verkauft hatte.

Literatur über Meinertzhagen
Dalton, R. (2005): Ornithologists stunned by bird collector’s deceit. – Nature, 437 (7057): 302-303.
Garfield, B. F. W. (2007): The Meinertzhagen Mystery. The Life and Legend of a Colossal Fraud. – Washington (Potomac Books Inc.). XIV + 353 S.
Knox, A. G. (1993): Richard Meinertzhagen – a case of fraud examined. – The Ibis, 135 (3): 320–325.
Lockman, J. N. (1995): Meinertzhagen’s Diary Ruse: False Entries on T. E. Lawrence. – Grand Rapids, Michigan (Cornerstone Publications Inc.). 114 S.
Olson, S. L. (2008): The Meinertzhagen Mystery: The Life and Legend of a Colossal Fraud. – The Wilson Journal of Ornithology 120 (4): 917-926.  [Rezension von Garfields Buch über Meinertzhagen]
Prŷs-Jones, R., Brooks, D. M. & Arnold, K. A. (2009): A second specimen of Sabine’s Gull Xema sabini from Texas, with a review of Meinertzhagen-generated confusion surrounding the first. – Bulletin of the British Ornithologists‘ Club, 129 (4): 202–205.
Rasmussen, P. C. (1998): Tytler’s Leaf Warbler Phylloscopus tytleri: non-breeding distribution, morphological discrimination, and ageing. – Forktail, 14: 17–29.
Rasmussen, P. C. & Collar, N. J. (1999): Major specimen fraud in the Forest Owlet Heteroglaux (Athene auct.) blewitti. – The Ibis, 141 (1): 11–21.
Rasmussen, P. C. & Prŷs-Jones, R. P. (2003): History vs mystery: the reliability of museum specimen data. – Bulletin of the British Ornithologists‘ Club, 123A: 66–94.
Seabrook, J. (2006): Ruffled feathers. Uncovering the biggest scandal in the bird world. – The New Yorker, 29. Mai 2006: 50–61.

Nun kommen wir zur Kombination von botanischem und entomologischem Betrug.

Heslop-Harrison
Recht bekannt sind die Betrügereien von Professor John William Heslop-Harrison (1881-1967), der auf den Inseln vor der schottischen Westküste, vor allem auf Rum (Rhum), alpine Gräser, Seggen und Blütenpflanzen anpflanzte und als neu für die Britischen Inseln „entdeckte“, um seine Theorie zu stützen, diese Inseln seien während der letzten Eiszeit unvergletscherte Refugien geblieben, wo diese Pflanzen überdauert hätten. Auch einige bemerkenswerte Schmetterlingsarten will er dort gefunden haben, die vor und nach ihm niemand mehr fand, darunter Phengaris arion, der in Großbritannien nur aus den südlichen Landesteilen, nördlich bis zu den Midlands bekannt war. Er meldete von Rum auch Boloria euphrosyne und Euphydryas aurinia. Kollegen, Fachbotaniker und Entomologen waren schon lange mißtrauisch gewesen, aber aus Rücksicht auf die Familie, vor allem auf seinen noch lebenden Sohn, den geschätzten Professor Jack Heslop-Harrison (1920-1998) wurden die meisten harten Fakten erst nach dessen Tod öffentlich gemacht (Raven 1948 unveröffentlicht, herausgegeben von Preston 2004, Sabbagh 1999). Es gab zwar auch Stimmen, die Heslop-Harrison selbst als Opfer eines unbekannten Betrügers sahen oder ihm zumindest in dubio pro reo zugestehen wollten. Das ist unwahrscheinlich, denn Rum war in den 1930er und 1940er Jahren im Privatbesitz von Lady Monica Bullough, der Witwe von Sir George Bullough, und für die Öffentlichkeit gesperrt. Heslop-Harrison erhielt nur durch seine persönlichen Kontakte zur Besitzerin die Erlaubnis, die Insel alleine und mit kleinen Studentengruppen zu betreten.

John Earle Raven (1914-1980)

Dem Oxford-Don und Amateurbotaniker John Raven gelang es 1948, unabhängig von Heslop-Harrison auf die Insel zu gelangen. Er fand die von Heslop-Harrison beschriebenen Standorte von einigen der verdächtigen Arten. Die neun Carex-bicolor-Pflanzen wuchsen in einer Reihe, fünf davon in gleichem Abstand voneinander. Raven und sein Begleiter Creighton unterzogen sie einer genauen Untersuchung und stellten fest, daß in einem der Carex-Büschel eine Poa annua (Einjähriges Rispengras) wuchs, ein gewöhnliches Garten-, Acker- und Wegrandgras, das an einem schottischen Berghang eigentlich nicht zu erwarten war. Sie suchten weiter und fanden im selben Büschel auch eine Sagina apetala (Kronblattloses Mastkraut), eine Pflanze der Steinpflaster-Trittfluren, Pflasterfugen und Ackerbrachen. Noch zwei weitere Carex-Büschel enthielten Poa annua und zwei andere Sagina apetala. In der näheren und weiteren Umgebung gab es keine dieser beiden Pflanzen, sie wuchsen nur direkt in den Carex-bicolor-Büscheln.
Am Standort einer anderen von Heslop-Harrisons Entdeckungen, des mediterranen Polycarpon tetraphyllum (Vierblättriges Nagelkraut), untersuchten sie die vier vorhandenen Pflanzen. Hier fanden sie, direkt an bzw. in einer der Polycarpon-Pflanzen wachsend („growing once again out of the very middle of the other large plant of Polycarpon“ schreibt Raven), den Schößling einer kleinen Blütenpflanze, die später von den Botanikern in Cambridge als Wahlenbergia nutabunda (heute Wahlenbergia lobelioides ssp. nutabunda) identifiziert wurde, eine im Mittelmeergebiet und auf den Kanaren und Madeira verbreitete Art, die auf den Britischen Inseln nur aus Botanischen Gärten bekannt war.
All das, zusammen mit den oft unpassend oder ungeeignet erscheinenden Standorten der arktisch-alpinen Pflanzen, waren eindeutige Hinweise darauf, daß sie nicht natürlich auf der Insel vorkamen sondern irgendwo weiter südlich gezüchtet und auf Rum angepflanzt worden waren.
Raven legte seinen Bericht dem Council des Trinity College, Cambridge, vor. Er wurde aber nicht veröffentlicht, sondern in der Bibliothek des College hinterlegt, mit der Auflage, erst nach dem Tod von Jack Heslop-Harrison geöffnet zu werden.

Wenn Sie botanisch-faunistisch-detektivisch interessiert sind, kennen Sie den Bericht vermutlich schon, wenn nicht, müssen Sie ihn lesen, solange er noch online archiviert ist. Hier ist er zu finden: https://web.archive.org/web/20110726103205/http://www.watsonia.org.uk/25_1_PrestonRaven.pdf
Literatur über Heslop-Harrison
Andrews, P. (accessed 2022): The Great British Large Blue Hoax.
Campbell, J. L. (1975): On the Rumoured Presence of the Large Blue in the Inner Hebrides. – The entomologist‘s record and journal of variation, 87: .
Eder, R. (2000): Up the Garden Path [A review of „A Rum Affair“]. The New York Times on the web: https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/00/08/13/reviews/000813.13ederlt.html
Preston, C. D. (Hrsg., 2004): John Raven’s report on his visit to the Hebrides, 1948. – Watsonia, 25: 17-44.
Pearman, D. A. & Walker, K. J. (2004): An examination of J. W. Heslop Harrison’s unconfirmed plant records from Rum. – Watsonia, 25: 45-63.
Sabbagh, K. (1999): A Rum Affair. – London (Allen Lane, The Penguin Press). / New York (Farrar, Straus & Giroux). 276 S. Chapter 1 online: https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/first/s/sabbagh-rum.html

Damit sind wir im Bereich des entomofaunistischen Betrugs angelangt.

Plastead
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts war in Chelsea ein Insektenhändler Plastead (17??-18??) aktiv, also in der Epoche, als die faunistische Erforschung noch in ihren Anfängen steckte und hinter jeder Hecke, in jedem Waldstück und auf jeder Moorwiese nicht nur faunistische Neuheiten sondern der Wissenschaft noch ganz unbekannte Arten erwartet werden konnten. Plastead verkaufte kontinentaleuropäische und exotische Arten als angeblich britisch an Sammler und Entomologen, unter anderem an James Sowerby, James Francis Stephens, John Curtis und William E. Leach vom Britischen Museum, in deren Werken sie dann mit ihren angeblichen britischen Fundorten genannt und abgebildet wurden.  Warum dieses Geschäftsmodell gerade in Großbritannien so erfolgreich war, haben Sie bereits in meinem Beitrag „Die heiligen Präputien“ erfahren.

Über Plasteads Biographie habe ich in der englischen Literatur nichts in Erfahrung bringen können; er dürfte vor 1828 gestorben sein, denn Stephens spricht 1828 von der Auflösung seiner Sammlung, die wie in England üblich wohl durch Auktion vereinzelt wurde. Sowohl Stephens als auch Curtis berichten über Falter, die sie aus Plasteads Sammlung erhalten – also wohl ersteigert oder gekauft – haben. In dem verdienstvollen Werk The Aurelian Legacy (Salmon, Marren & Harley 2000) wird angegeben, daß Plastead zeitweise in Woodside am Epping Forest und am Ashdown Forest wohnte. Von dort kamen jedenfalls – angeblich – viele seiner Neuentdeckungen. Plastead muß weitverzweigte Handelsbeziehungen gepflegt haben, denn neben mittel- und südeuropäischen konnte er sich auch amerikanische und afrikanische Arten verschaffen.

  • 1806 meldete Sowerby Papilio chryseis (= Lycaena hippothoe) als neu für Großbritannien, „caught by Mr. Plaste[a]d of Chelsea, in As[h]down forest, Sussex.“ Die Art war wohl über Jahrzehnte ein kommerzieller Erfolg; in der Sammlung von J. C. Dale befinden sich drei Exemplare aus Woodside bei Epping vom September 1818. Nach heutiger Kenntnis kam die Art in historischer Zeit nirgends auf den Britischen Inseln vor.
  • Über Valeria oleagina berichtete Sowerby:
    „This new British Moth was bred by Mr. Plaste[a]d of Chelsea, who does not remember where he took the caterpillar. It very much resembles N. Persicariae; but the antennas being feathered help to distinguish it.“
    Bei Raupenfunden war man früher, was Fundort und Datum betraf, noch viel nachlässiger als bei Falterfunden. Daher war die fehlende Fundortangabe damals kein Grund, die Glaubwürdigkeit der britischen Herkunft zu bezweifeln. Zudem gab es noch mehr Valeria-oleagina-Angaben aus Großbritannien, darunter ein Falter, der angeblich im Juli 1800 in der Abenddämmerung entlang einer Hecke fliegend bei Fishguard an der Küste von Wales (Pembrokeshire) gefangen wurde. Das kann allein schon wegen der falschen Flugzeit nicht stimmen, aber damals waren die Flugzeiten und Raupenbiologien vieler kontinentaleuropäischer Arten in England noch nicht bekannt. Plasteads angeblicher Fund bietet übrigens ein Beispiel dafür, wie manche Angaben im Laufe der Zeit zusätzliche Fundorte und sogar ein unterschiedliches Stadium annehmen können, denn 23 Jahre später wußte Stephens (1829) über Valeria oleagina zu berichten:
    „Very rare; specimens have been found in Richmond Park, and one was taken in the pupa state by Mr. Plastead some twenty or thirty years ago in Battersea Fields; […]“.
    So wurde aus einer fundortlosen Raupe eine Puppe in Battersea Fields. Womöglich hat Stephens die abweichende Angabe sogar von Plastead selbst erhalten, der im Laufe der Zeit vielleicht meinte, eine genauere Angabe könnte die Glaubwürdigkeit erhöhen. Oder er hatte schlicht vergessen, was er Sowerby ein Vierteljahrhundert zuvor weisgemacht hatte. Übrigens wird auch die Richmond-Park-Meldung heute nicht mehr für glaubwürdig gehalten.
  • Den amerikanischen Tabakschwärmer Manduca sexta hat Curtis 1828 unter dem Namen Sphinx carolina abgebildet, mit dem Vermerk, daß er ein Pärchen davon besaß, das angeblich am 28. August 1796 in West Cowes auf der Isle of Wight von einem „Mr. Thompson (a friend of Mr. Plastead’s)” gefangen worden war. Das blieb bis heute der einzige britische Nachweis dieser Art.
  • Über Coenonympha arcania berichtet Stephens (1828) nur: „The locality of this insect is unknown to me; the only reputed indigenous specimen was in Mr. Plastead’s collection. “ Und von dort gelangte es in die Sammlung von Curtis, der mit stolzgeschwellter Brust gleich zweimal in einem Absatz darauf hinweisen muß: „Being in possession of the only indigenous specimen of this insect, and […]. The specimen figured (which by the form of the body I consider a male) was captured by Mr. Plastead it is understood, on the borders of Ashdown Forest, and is now in my cabinet. “ (Curtis 1828).
  • Aber nicht nur arcania sondern auch die seltene Coenonympha hero ist Plastead im Ashdown Forest ins Netz gegangen: „A female was taken by Mr. Plastead near Wythyham on the borders of Ashdown Forest, Sussex.“ (Curtis 1828). Auch Ingpen und Stephens bringen diese Angabe; Stephens weist darauf hin, daß er das Exemplar nicht gesehen hat, was bedeuten dürfte, daß es in Curtis Sammlung gelandet ist.
  • Die süd- und ostafrikanische Acontia caffraria (Cramer, 1777) ist von Curtis (1823-1840) unter dem Namen Acontia caloris beschrieben worden: „The only British specimen of this fine insect known, I obtained from the Cabinet of Mr. Plastead; it was taken, I believe, in the neighbourhood of London: it is a very fine specimen, the thorax only being rubbed, probably from its running in the net.“
  • Plastead hat noch eine weitere exotische Acontia, die asiatische Acontia nitidula (Fabricius, 1787) als britisch verschachert. Der ahnungslose Sowerby (1806) beschrieb sie unter dem Namen Acontia catena: „This new moth was likewise taken by Mr. Plaste[a]d at Brixton, Surr[e]y.“ Nachdem in den folgenden zwei Jahrzehnten keine weiteren Exemplare aus Großbritannien bekannt geworden waren, schrieb Stephens (1829) in schon etwas vorsichtigerer Ausdrucksweise: „Said to have been taken by Mr. Plastead at Brixton, in Surr[e]y, about the middle of September.“ Im selben Jahr betonte Curtis (1829) die Einzigartigkeit der „Brixton Beauty“: „This elegant moth is considered the most valuable of British insects; for although it was captured nearly thirty years back, it still remains unique in this country, and is quite unknown upon the Continent. It was taken by Mr. Plastead at Brixton in Surrey, the middle of September.“ In der neueren Literatur werden diese Angaben falsch datiert. Clancy & al. (2012) geben in „Moths of Great Britain and Ireland“ als Fundjahr an “Brixton, Surrey, Sept. 1829”, was natürlich nicht stimmt, da das Exemplar ja schon 1806 von Sowerby erwähnt und benannt wurde. Der 1. September 1829 ist das Datum der Veröffentlichung von Curtis‘ Tafel mit der Abbildung der Art, und Curtis schreibt dazu ausdrücklich daß der Fang dreißig Jahre zurücklag, also in den Jahren um 1800. Dieser Fehler von Clancy & al. ist inzwischen ins Internet übernommen worden, unter anderem in die Wikipedia mit ihren ungezählten Klonen, und wird uns daher auf lange Zeit erhalten bleiben (https://en.wikipedia.org/wiki/Acontia_nitidula, https://en.wikipedia.org/wiki/Acontia_nitidula). Macht aber auch nicht viel aus bei einer ohnehin total falschen Meldung.
  • Von der mediterranen Eule Scotochrosta pulla meldet Stephens (1829: 170) ein Exemplar im Britischen Museum: „it was captured at Woodside near Epping in 1817.“ Ein Finder ist nicht angegeben, aber wir wissen ja, wer in dieser Zeit in Woodside bei Epping gesammelt (oder angeblich gesammelt) hat.
  • Die Möndcheneule Calophasia lunula ist in den 1950er Jahren erstmals in England aufgetaucht und hat sich seitdem immer weiter ausgebreitet. Plastead scheint das über ein Jahrhundert im voraus geahnt zu haben, denn er verscherbelte mehrere Exemplare an Dr. Leach vom Britischen Museum. Von dem erhielt Stephens später einen Falter: “The only examples I have seen of this remarkably conspicuous insect are contained in the collection of the British Museum, and in my own cabinet; they were captured in June, 1817, at Woodside, near Epping, and were obtained while recent, by Dr. Leach, who, with his wonted liberality, supplied me with the fine specimen whence the accompanying figure was designed.” – Auch hier kein Sammlername, aber Fundort und Jahr sprechen für sich.
  • Curtis‘ Abbildung als „Psodos equestrata, The gold four-spot Moth“. Keiner weiß, woher dieses Belegstück stammt, aber jedenfalls nicht aus England.

    Eine weitere kuriose Meldung findet sich bei Curtis (1832). Der unverwechselbare alpine Psodos quadrifaria mit seinen orangegelben Flecken auf dunkelbraunem Grund kommt von den Pyrenäen über die Alpen und Vogesen bis in die Tatra und die Sudeten vor. Plastead hat dafür gesorgt, daß er auch in Großbritannien vorkam, auch wenn er besser einen Fundort im schottischen Hochland gewählt hätte statt ausgerechnet das südenglische Kent (Bromley liegt im südlichen Dunstkreis von London). Curtis bildet den Falter ab und berichtet: “The two specimens I possess of this very rare and handsome moth were taken many years since by Mr. Plastead near Holwood or Holywell, by Bromley in Kent; and Mr. Dale has another, which he obtained from the cabinet of the late Dr. Abbot.”
    Das Exemplar aus der Sammlung von Reverend Dr. Charles Abbot dürfte ebenfalls von Plastead gestammt haben, denn der arglose Reverend hatte in seiner Sammlung eine ganze Anzahl von amerikanischen und anderen nicht-britischen Arten, die er wohl von Händlern erhalten hatte, darunter Burnsius oileus, Hylephila phyleus, Iphiclides podalirius, Pontia edusa und Issoria lathonia. Es wäre vielleicht am besten gewesen, wenn diese Sammlung vereinzelt oder vernichtet worden wäre, aber rein zufällig machte James Charles Dale kurz nach Abbots Tod 1817 am Swan Inn in Bedford Halt, wo die Sammlung ausgestellt war und kaufte sie auf der Stelle (Allan 1943; Salmon, Marren & Harley 2000). So gelangten mit den unverdächtigen von Abbot selbst gesammelten Arten auch die problematischen Arten in eine seriöse Sammlung und in die Literatur.

Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, daß einige der englischen Entomologen sehr wohl Bedenken hatten, Belegstücke wie die aus der Sammlung Plasteads (und anderer unsicherer Kandidaten) allzu leichtgläubig als britisch zu akzeptieren. Curtis war anscheinend ganz blauäugig, aber Stephens hat wenigstens in einigen Fällen Zweifel geäußert. Über den amerikanischen Schwärmer Hemaris thysbe (damals unter dem Namen Sesia cimbiciformis bekannt), der als Hemaris fuciformis in Plasteads Sammlung steckte, schrieb er:

“Upon the dispersion of Mr. Plastead’s collection I obtained a fine pair of this species therefrom; but as it is indigenous to North America, I conceive that the ends of science will be more advantageously benefited by the simple indication of the fact, than by giving the insect as an inhabitant of this country, which the mere detection of specimens in a collection does not warrant; but on the contrary, as this insect was considered by Mr. Plastead as the Sp. Fusiformis, it is evident that he did not scruple to admit foreign specimens into his cabinet.” (Stephens 1828: 135)
[Bei der Auflösung von Mr. Plasteads Sammlung erhielt ich daraus ein schönes Paar dieser Art. Da sie aber in Nordamerika heimisch ist, denke ich, der Wissenschaft ist besser gedient durch die einfache Anzeige dieser Tatsache als durch die Anerkennung des Insekts als Einwohner unseres Landes; das ist durch die Entdeckung von Exemplaren in einer Sammlung nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil; da Mr. Plastead das Insekt für Sphinx fusiformis [= Hemaris fuciformis] hielt, ist es offensichtlich, daß er keine Bedenken hatte, ausländische Insekten in seine Sammlung aufzunehmen.]

Wären doch alle von Plasteads fragwürdigen Arten von Anfang an so kritisiert worden. Die Problematik wurde natürlich dadurch begünstigt, daß man damals noch keine Fundortzettel an die Nadeln der Tiere steckte. Das war in Großbritannien sowieso viel schwieriger als auf dem Kontinent, weil die in England üblichen shortpins nicht nur eine Etikettierung sondern überhaupt die Handhabung der Falter sehr erschwerten. Wer jemals das Pech hatte, mit Belegstücken aus englischen Sammlungen arbeiten zu müssen, weiß, was ich meine.

Zwei Kaisermantel-Belegstücke in Seitenansicht. Links auf einer normalen 38 mm-Nadel genadelt, rechts auf einer englischen Shortpin. Selbst mit einer Steckzange hat man hier Schwierigkeiten. Erst im späten 20. Jahrhundert haben die Briten dieses unpraktische Verfahren zugunsten des internationalen Standards aufgegeben.

Wenn alte, historische Belegstücke in englischen Sammlungen überhaupt ein Etikett haben, dann wird das oft neben dem Falter auf den Kastenboden gesteckt. Und enthält häufig gar keinen Fundort sondern nur einen Sammlernamen, etwa „From the collection of J. W. Hunter“. Und ist oft erst nach der Auflösung von J. W. Hunters Sammlung vom Käufer des Belegstücks angebracht worden.

Nun war Epping auch der Wohnort der beiden Quaker-Brüder Edward und Henry Doubleday, beide mindestens eine Generation jünger als Plastead und außerordentlich kenntnisreiche Lepidopterologen. Sie gehörten zu den Ersten, die die neue Fangmethode des Köderns ausübten und kommunizierten. Edward ist jung gestorben (1811-1849), aber der leider chronisch schüchterne und zurückgezogen lebende Henry (1808-1875) hat sich mehrmals über die betrügerischen Praktiken einiger Händler ausgesprochen, auch in Hinsicht auf die unwahrscheinlichen Fundorte.

[…] all the reputed British specimens of L. Chryseis [= Lycaena hippothoe] were obtained from a dealer, who gave Epping as the locality, and a more unlikely spot for its occurrence he could hardly have mentioned. (Doubleday 1856)
[[…] alle angeblich britischen Belegstücke von L. Chryseis [= Lycaena hippothoe] stammten von einem Händler, der Epping als Fundort ausgab, und einen unpassenderen Fundort für diese Art hätte er sich kaum ausdenken können.]

Dem Händler Seaman aus Ipswich, der ebenfalls kontinentaleuropäische Falter als britisch verkaufte, konnte Henry Doubleday mit einem genialen Kniff den Betrug nachweisen:

[…] when at his house he showed me rows of L. Chryseis and L. Virgaureae, all of which, he assured me, were taken by himself in Britain: I purchased three or four specimens for examination, and upon relaxing them the wings returned to the position in which they had originally been set upon the Continent. (Doubleday 1856)
[[…] als ich ihn besuchte, zeigte er mir Serien von L. Chryseis and L. Virgaureae, die alle, wie er mir versicherte, von ihm selbst in Großbritannien gefangen worden waren. Ich erstand drei oder vier Exemplare, um sie zu untersuchen, und als ich sie aufweichte, nahmen die Flügel wieder die Stellung ein, in der sie ursprünglich auf dem Kontinent präpariert worden waren.]

In diesem Fall half es, daß die Briten eine andere Präparationsstellung bevorzugten als der Rest der entomologischen Welt.

Die Mitteilung eines Mr. Buxton, er habe bei Seaman unpräparierte Issoria lathonia-Falter erworben, konnte Doubleday aus eigener Kenntnis wie folgt ergänzen:

these specimens were no doubt part of a lot which I know he had in this state from the late John Hoy, Esq., of Higham, who took them on the Continent.
[Diese Exemplare waren ohne Zweifel Teil eines Postens, den er, wie ich weiß, in diesem Zustand von dem verstorbenen John Hoy aus Highahm erhielt, der sie auf dem Kontinent gefangen hatte.]

und fügt zur Bestätigung dieser Aussage noch das schlagende Argument hinzu:

Mr. Seaman would not have sold British specimens of this insect at two shillings each.
[Mr. Seaman hätte [echte] britische Exemplare dieser Art nie für zwei Schilling pro Stück verkauft.]

Nein, für (echte oder angeblich) britische Tiere hätte ein Händler den fünf- oder zehnfachen Preis gefordert.

Die seriösen englischen Lepidopterologen wußten also, was Sache war, auch wenn sie die Wahrheit oft mit ein wenig Understatement formulierten, so etwa Charles William Dale, der in seiner Bearbeitung der britischen Tagfalter 1890 bemerkte, daß  Plastead “cannot be looked upon in the character of a trustworthy personage.”

Wer nicht so viel Einblick in die britische Zeitschriftenliteratur hatte und vielleicht nur die größeren Werke wie das von Curtis kannte, kam unweigerlich zu falschen Schlüssen, so etwa Gabriel Koch (1854) in seinem Buch über die Verbreitung der europäischen Schmetterlinge in anderen Weltteilen:

Ist Ihnen auch der Fundort Chelsea ins Auge gefallen? Hmmm… Wer war das gleich, der dort gewohnt hat?

Das große Übel waren natürlich Sammler, die alle britischen Arten in ihren Sammlungen haben wollten und für seltene angeblich britische Tiere die unmöglichsten Preise zahlten. Über diese Auswüchse und über die Machenschaften der „Kentish Buccaneers“, das heißt über George Parry und seine Konsorten (oder Strohmänner, oder Pseudonyme), deren Treiben bis ins 20. Jahrhundert dauerte, habe ich in dem oben verlinkten Beitrag berichtet.

Literatur über Plastead
Allan, P. B. M. (1943): Talking of Moths. – Newtown (The Montgomery Press). XII + 340 S.
Clancy, S., Top-Jensen, M. & Fibiger, M. (2012): Moths of Great Britain and Ireland. A field guide to all the macomoths. – Östermarie (Bugbook Publishing). 640 S.
Curtis, J. (1823-1840): British entomology; being illustrations and descriptions of the genera of insects found in Great Britain and Ireland […]. Vol. 5-6. Lepidoptera. – London (Ellis and Co.).
Dale, C. W. (1890): The history of our British butterflies containing– a  full bibliographical notice of each species, with copious extracts from the old authors; and full descriptions of all the British species, their eggs, caterpillars, chrysalides and varieties, with a notice of their habits, localities, frequency, &c.,  &c. – London (John Kempster & Co.). XLI + [3] + 232 S.
Doubleday, H. (1856): Remarks on Mr. Buxton’s Note on Argynnis Lathonia and Pieris Daplidice. – The zoologist, 14: 5146-5147.
Koch, G. (1854): Die geographische Verbreitung der europäischen Schmetterlinge in anderen Welttheilen. – Leipzig (Hermann Costenoble). [4] + 154 S.
Salmon, M. A. (2000): The Aurelian legacy. British butterflies and their collectors. With additional material by Peter Marren and Basil Harley. – Colchester (Harley). 432 S.
Sowerby, J. (1806): The British Miscellany: or coloured Figures of new, rare, or little known Animal Subjects; many not before ascertained to be Inhabitants of the British Isles; and chiefly in the Possession of the Author.  Volume 1. – London (R. Taylor & Co.). VI + 136 S., 60 pls.
Stephens, J. F. (1829a): Illustrations of British entomology: or, a synopsis of indigenous insects: containing their generic and specific distinctions; with an account of their metamorphoses, times of appearance, localities, food, and economy, as far as practicable. Haustellata. Vol. II. – London (Baldwin & Cradock). – [2] + 202 + [2] S., Taf. 13-24.
Stephens, J. F. (1829b): Illustrations of British entomology: or, a synopsis of indigenous insects: containing their generic and specific distinctions; with an account of their metamorphoses, times of appearance, localities, food, and economy, as far as practicable. Haustellata. Vol. III. – London (Baldwin & Cradock). – [2] + 202 + [2] S., Taf. 13-24.

Entomofaunistischer Betrug kam natürlich auch bei uns vor. Hier ein besonders auffälliges Beispiel.

Einer der Gewährsleute von Georg Brückner
Mitte des 19. Jahrhunderts hat der ansonsten verdienstvolle Schuldirektor Johann Georg Martin Brückner (1800-1881) aus Meiningen eine zweibändige „Landeskunde des Herzogthums Meiningen“ veröffentlicht, die auch ein Kapitel über das „Thierreich“ und darin ein Verzeichnis der Schmetterlinge enthält. Arno Bergmann, der Wert auf Sorgfalt und Genauigkeit legte, was seinen eigenen Werken ihren dauerhaften Wert als faunenhistorische Dokumente verleiht, hat sich nicht zurückhalten können und hat über das Brücknersche Werk in harten, aber verdienten Worten geurteilt:

„Das Verzeichnis ist wohl das Jämmerlichste und Schamloseste, was je über Schmetterlinge Thüringens geschrieben worden ist. Der Verfasser hat, offenbar ohne die geringste Sachkenntnis, aus einem Schmetterlingsbuche zahlreiche Namen herausgeschrieben.“ (Bergmann 1951: 18).

Eine harsche Kritik? Zweifellos, aber Sie werden sie verstehen, wenn Sie erfahren, welche Arten dieses Verzeichnis – über Meiningen in Mitteldeutschland wohlgemerkt – enthält. Hier sind einige davon (in modernisierter Nomenklatur):

Melitaea trivia, Boloria pales (oder B. napaea), Nymphalis vaualbum, Hipparchia statilinus, Pyronia cecilia, Pyronia bathseba, Erebia epiphron, Erebia tyndarus (-Artengruppe), Spialia tesselum, Saturnia spini, Dicranura ulmi, Acossus terebra, Eilema palliatella, Setina roscida kuhlweini, Pentophera morio, Ocneria rubea, Lemonia taraxaci, Chersotis rectangula, Chersotis ocellina, Euxoa vitta, Agrotis ripae, Epipsilia grisescens, Amphipyra cinnamomea, Actebia fugax, Meganephria bimaculosa, Simyra nervosa, Luteohadena luteago, Tiliacea sulphurago, Cucullia argentea, Cucullia mixta, Apaustis rupicola, Calymma communimacula, Catocala coniuncta, Catocala pacta, Catocala hymenea, Euclidia triquetra, Hypena palpalis, Hypena obesalis, Hypena obsitalis, Hypena lividalis, Polypogon plumigeralis, Boudinotiana puella, Gnophos obfuscata, Macaria carbonaria.

Selbst Mitte des 19. Jahrhunderts konnten keinem Entomologen, der einen Schuß Pulver wert war, derartig viele schwerwiegende Fehlbestimmungen unterlaufen. Nein, es handelt sich hier offensichtlich um Erfindungen. Die Frage ist, auf wen diese Liste zurückgeht. War es Brückner selber oder war es ein Gewährsmann, dessen Angaben Brückner mangels eigener entomologischer Kenntnisse nicht beurteilen konnte? Sein Werdegang läßt nämlich keine naturwissenschaftliche Ausbildung erkennen: Johann Georg Martin Brückner hatte in Jena Theologie studiert und daneben Geschichte, Philologie und Philosophie gehört. In Hildburghausen legte er die Theologische Kandidatenprüfung ab und erhielt danach eine Lehrerstelle im Zivil-Waisenhaus für Knaben in Klein-Glienicke. 1831 wurde er Rektor der Bürgerschule Hildburghausen, 1841 (Schul-)Professor an der neu ausgebauten Realschule Meiningen, wo er Religion, Geschichte, Geographie, Mathematik und deutsche Sprache unterrichtete. Zusätzlich wurde er 1860 Leiter des hennebergischen Gesamtarchivs (als Nachfolger von Bechstein) und 1864 Direktor des Hennebergischen Altertumsforschenden Vereins (als Nachfolger von Liliencron). Diese Mehrfachbelastung führte zu gesundheitlichen Problemen, so daß er sich 1866 pensionieren ließ. 1873 wurde er noch zum Geheimen Hofrat ernannt und starb hoch angesehen 1881.

In der „Landeskunde des Herzogthums Meiningen“ sind gerade bei den naturwissenschaftlichen Kapiteln mehrere Gewährsleute mindestens als Datenlieferanten, wahrscheinlicher aber als Co-Autoren tätig gewesen. Brückner dankt in der Einleitung „besonders den Herren Oberrechnungsrath Lomler und Professor Emmrich in Meiningen, Reallehrer Richter in Saalfeld, Apotheker Hoe in Könitz und Lehrer Lomler in Salzungen wegen ihrer die Naturkunde des Landes betreffenden Beiträge“. Brückner hat sich offenbar mangels eigener naturwissenschaftlicher Kenntnisse auf die Beiträge seiner Gewährsleute verlassen müssen und konnte die schwerwiegenden Fehler der Schmetterlingsliste nicht erkennen. Die Textteile über die einzelnen Insektenordnungen enthalten leider keine Angaben über ihre Bearbeiter. Lediglich bei den Mollusken werden in einer Fußnote „Ob.=R.=R. Lomler, Dr. Menke und Prof. Panzerbieter“ als Bearbeiter genannt. Die Autorschaft der Schmetterlingsliste bleibt also bis auf weiteres fraglich, die Fälschungsabsicht ist dagegen unbestritten. Auch Bergmann schreibt vorsichtig nur „der Verfasser“, ist sich also im Klaren darüber, daß die Liste nicht unbedingt von Brückner selbst stammt.

  • Ein Oberrechnungsrat Lomler tritt in Kellners Verzeichnis der Käfer Thüringens (1876) als Gewährsmann auf (und als verstorben); er war offenbar Coleopterologe.
  • Der „Lehrer Lomler in Salzungen“ war Dr. Gustav Lomler aus Saalfeld, der 1838 bis 1842 Oberlehrer an der Realschule in Salzungen war. Er war unter anderem archäologisch interessiert (im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit wird er 1862, 1879 und 1883 als Spender erwähnt).
  • Mit „Professor Emmrich“ ist der Schulprofessor und (von 1870 bis 1879) Direktor der Realschule Meiningen Hermann Friedrich Emmrich (1815-1879) gemeint, der als Geologe und Paläontologe wirkte ( https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Friedrich_Emmrich ).
  • Der „Reallehrer Richter in Saalfeld“ war Reinhard Richter (1813-1884), Direktor der dortigen Realschule, der eine Flora von Saalfeld und eine Arbeit über die Saalfische veröffentlichte, sich dann bevorzugt der Geologie und Paläontologie widmete und in diesen Fachgebieten zahlreiche Arbeiten schrieb. Er wurde Herzoglich sächsischer Geheimer Rat, erhielt den Sachsen-Ernestinischen Hausorden 1. Klasse und wurde 1858 von der Univ. Jena zum Dr. phil. h.c. ernannt ( https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Richter_(Pal%C3%A4ontologe) ).
  • Der „Apotheker [Eduard] Hoe in Könitz“ (auch Hoë) war botanisch und paläobotanisch aktiv. Einige fossile Pflanzentaxa sind nach ihm benannt. Haller schreibt 1883 in der Flora von Deutschland (Band 15, 5. Auflage, S. 101) über eine fragliche Fundmeldung: „Als Gewährsmann wird der in seinen Angaben sehr unzuverlässige Apotheker Hoe, früher in Könitz, von Schönheit genannt.“

Einer von diesen fünf Kandidaten wird der Übeltäter gewesen sein; Emmrich und Richter kommen mir ob ihres guten Leumunds am wenigsten wahrscheinlich vor. Hoe wird zwar als unzuverlässig bezeichnet, aber reicht das aus, um ihm den Schwarzen Peter zuzuschieben? Es wird wohl offen bleiben müssen, falls keine weiteren Indizien auftauchen.

Literatur über Brückner
Bergmann, A. (1951):Die Großschmetterlinge Mitteldeutschlands. Band 1. Die Natur Mitteldeutschlands und ihre Schmetterlingsgesellschaften. – Jena (Urania Verlag). XX, 631 S.
Brückner, J. G. M. (1851): Landeskunde des Herzogthums Meiningen. Erster Theil. (Die allgemeinen Verhältnisse des Landes.). – Meiningen (Brückner und Renner). [8] + 484 + [4] S. Enthält ein Kapitel „Thierreich“, S. 251-280, und ein Verzeichnis der Schmetterlinge, S. 273-277. [Digitalisat: http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10018705.html]
Germann, W. (1903): Brückner, Georg. – In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 47: 278-283.. Leipzig (Duncker & Humblot). [Digitalisat: https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Br%C3%BCckner,_Georg]
Scheinost, M. (2003): Johann Georg Martin Brückner (1800-1881). Forschung zwischen Wissenschaft und nationalem Anspruch. – Würzburg (Königshausen & Neumann). 350 S.

Fortsetzung folgt.


[1] bei Bekalta (Tunesien)
[2] in Tunesien
[3] Das ist die entschärfte Version, wie man sie in kindergerechten Geschichtsbüchern findet. Plutarch (Cato minor, 70) schildert den Vorgang in ungewöhnlich detaillierter und drastischer Weise: Cato wollte sich mit seinem Schwert töten, was wegen einer Handverletzung aber mißlang; er fiel schwerverletzt vom Bett. Der Lärm rief seine Freunde und seinen Sohn ins Zimmer. Ein Arzt schob die heraushängenden Gedärme in die Leibeshöhle zurück und wollte die Wunde zunähen. Dabei kam Cato wieder zu Bewußtsein. Er stieß den Arzt zurück, riß die Wunde mit den Händen weiter auf und zerriß seine Eingeweide, und so starb er.

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