Mysteriöse Arten – Was ist Forbachia solitaria? (Geometridae)

Karl Albrecht, ein Eisenbahnoberingenieur aus Saarbrücken, sammelte am 12. Juni 1910 in der Umgebung von Forbach im französischen Lothringen (Dép. Moselle) einen merkwürdig aussehenden Spanner, den er beim besten Willen keiner bekannten Art zuordnen konnte. Nachdem er sich zehn Jahre lang mit dem Tier beschäftigt hatte, entschloß er sich schließlich dazu, es als neue Art zu beschreiben. Und das obwohl die gestauchte Flügelform jeden erfahrenen Entomologen sofort an eine Mißbildung denken läßt. Allerdings ließ sich auch das Geäder, ein wichtiges taxonomisches Merkmal, mit keiner Geometridengattung in Einklang bringen. Aber selbst das könnte ja aberrativ bedingt sein. Und es war Albrecht in der ganzen Zeit nicht gelungen, weitere Exemplare dieses Falters zu erbeuten, obwohl er danach gesucht hatte.

Die technisch nicht besonders gelungene Abbildung von Forbachia solitaria aus der Originalbeschreibung (Albrecht 1920):
Das Verlangen, eine Art, und wenn sie sich auch als Form oder Varietät herausstellen sollte, zu benennen und den eigenen Namen für immer mit dem Artnamen verknüpft zu wissen, überwindet so manche Skrupel. Es besteht kein Zweifel, daß Albrecht recht genau wußte, in welche Verwandtschaft sein Spanner gehörte. Am Schluß des Aufsatzes schreibt er klipp und klar: „Der Falter ist der Gattung Lythria folgend einzureihen.“ Und da stand damals (und in den meisten Systementwürfen auch heute noch) die Gattung Scotopteryx (damals als Ortholitha bekannt).

1930 hat sich Fritz Heydemann anläßlich einer Bearbeitung von Scotopteryx mucronata auch mit Forbachia solitaria befaßt. Er konnte Albrecht nicht erreichen und mußte sich deshalb auf zwei Fotos des Falters stützen, die er von Warnecke erhalten hatte. Er verglich das Tier mit aberrativen Exemplaren anderer Arten, bei denen eine ähnlich gestauchte Flügelform mit abgerundetem Apex auftrat und kam zu dem Schluß, es müsse sich bei Forbachia solitaria um eine Aberration von Scotopteryx mucronata handeln („eine anormale, symmetrische Geäderdeformation“). Auch Rudolf Püngeler hatte sich 1925 gegenüber Heydemann brieflich geäußert, er „denke an ein aberratives Stück der mucronata mit anormal entwickeltem Flügelschnitt.“ Man merkt, daß das Tier verschiedene Taxonomen zu Überlegungen angeregt hat, die insgesamt in dieselbe Richtung führten. (Damals wurden Scotopteryx mucronata und Scotopteryx luridata noch nicht artlich getrennt.)

Dramatis personae (v.l.n.r.): Ingenieur Karl Albrecht (18??-195?), Amtsgerichtsrat Rudolf Püngeler (1857-1927), Prof. Dr. Fritz Heydemann (1888-1967), Dr. med. Eugen Wehrli (1871-1958)

Zwei Jahre später hat Eugen Wehrli, der profunde Kenner der paläarktischen Geometriden, das Tier von Albrecht zur Untersuchung erhalten und die Ergebnisse auf nicht weniger als 12 ½ Druckseiten und 2 Tafeln vorgelegt (Wehrli 1932-1933). Wie er berichtet, hatte ihn dieses Problem schon seit Albrechts Veröffentlichung gereizt und er sich als Experte angesprochen und herausgefordert gefühlt. Er ist mit seiner gewohnten Schweizerischen Gründlichkeit zu Werk gegangen und hat seine Überlegungen, seine Vorgehensweise und seine Schlußfolgerungen detailliert geschildert.

Wehrli hat neue, bessere Fotos des Falters gezeigt, um ihn mit unterschiedlicher Beleuchtung und vor verschiedenen Hintergründen darzustellen. (Die Abb. 3 zeigt eine Aberration von Cabera pusaria.)

Ungünstigerweise hatte Wehrli schon 1920 eine Idee zu dem Tier gehabt, die ihn nicht mehr losließ. Er hielt den Falter anhand der Abbildung für eine Aberration entweder von Scotopteryx mucronata oder von Pennithera firmata und neigte schließlich zu P. firmata. Als nun ein Genitalpräparat angefertigt wurde, zeigte sich keine Übereinstimmung, nicht einmal eine gewisse Ähnlichkeit mit Pennithera firmata sondern es sah aus wie ein Scotopteryx. Andererseits glaubte Wehrli, kleine Abweichungen von einem normalen Scotopteryx-mucronata-Genital zu erkennen. Beide Valven waren allerdings leider beschädigt worden, offenbar als das Hinterleibsende im trockenen Zustand von Albrecht abgepinselt wurde. Wehrli meinte nun, die Abweichungen als Hinweise auf Eigenschaften von Pennithera-firmata-Genitalien interpretieren zu müssen.

Am Geäder und Genital der F. solitaria hat Wehrli verschiedene Messungen (z. B. von Ader- und Zellenlängen) durchführen lassen, Verhältnisse ausgerechnet und mit denen von S. mucronata und P. firmata verglichen. Gerade das Geäder zeigt Merkmale, die weder auf Scotoptery noch auf Pennithera zutreffen. In der Flügelzeichnung und -färbung sah er Merkmale, die sich auf jede der beiden Arten beziehen ließen. Daß Hybride, wenn sie sich überhaupt bis zum Falter entwickeln, häufig deformiert sind, ist bekannt, auch daß sie manchmal archaische Merkmalsausprägungen zeigen, die keine der beiden Elternarten mehr aufweist. So verfestigte sich seine Ansicht, es müsse sich um einen Hybriden zwischen Scotopteryx mucronata und Pennithera firmata handeln. (Wenn Sie die Argumentation im Detail nachlesen möchten, finden Sie die Links dorthin unten im Literaturverzeichnis.) Am Schluß rief er die Lepidopterologen und Züchter dazu auf, Kreuzungsversuche zwischen diesen beiden Arten vorzunehmen. Das scheint bis zum heutigen Tage niemandem gelungen zu sein – wenn es überhaupt jemand versucht hat.

Ich fürchte, daß Wehrli sich da in eine Lieblingstheorie verrannt hat. Das sehen auch die meisten heutigen Autoren so. Hausmann & Viidalepp (2012) führen Forbachia solitaria als Synonym von Scotopteryx luridata mit der Bemerkung „Aberration, assignation tentative (Scoble 1999)“. Im Global Lepidoptera Names Index des Natural History Museum London steht Forbachia solitaria als Synonym von Scotopteryx luridata ssp. plumbaria.

Wie dem auch sei, es handelt sich jedenfalls nicht um eine eigene Art; das war aufgrund des Fundorts (ein Endemit in Lothringen?) und wegen des Fehlens weiterer Belege schon von Anfang an unplausibel. Wäre das Belegstück noch vorhanden, könnte man die Identität vielleicht durch Barcoding endgültig klären, sofern man die Sache der Mühe für wert erachtet. Aber die Sammlung von Karl Albrecht ist im 2. Weltkrieg bei einem Bombenangriff auf Saarbrücken vernichtet worden. So bleibt Forbachia solitaria eine – immerhin ganz interessante und mit ziemlicher Genauigkeit aufgeklärte – Randnotiz in der Geschichte der Geometridentaxonomie.

Literatur
Albrecht, K. (1920): Ein neuer Spanner. Forbachia solitaria Albrecht. – Entomologische Zeitschrift, 34: 73-74.
Albrecht, K. (1932): Zur Deutung der Forbachia solitaria Albr. (Lep. Geom.). – Entomologische Zeitschrift, 46: 175-176.
Hausmann, A. & Viidalepp, J. (2012): The Geometrid Moths of Europe. Volume 3. Larentiinae I. – Vester Skerninge (Apollo Books). 743 S.
Heydemann, F. (1930): Variabilität und Rassenbildung bei Orth. mucronata Scop. und Emat. atomaria L. zugleich mit einer Deutung der Forbachia solitaria Albr. – Internationale entomologische Zeitschrift, 24: 119-128, 135-139, 143-152, 155-163, 170-176.
Wehrli, E. (1932-1933): Zur Frage der Forbachia solitaria Albrecht (Lep. Geom.). – Entomologische Zeitschrift, 46: 176-179, 196-199, 204-207, 212-213.

Siehe auch
Mysteriöse Arten – Was ist Neocomia satinea?
Mysteriöse Arten – Was ist Peucephila essoni?
Mysteriöse Arten – Euclemensia woodiella
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