94 Grad im Schatten – Lawrence Alma-Tadema: Ninety-four degrees in the shade

Schmetterlinge in Kunst und Kultur (4)

Sir Lawrence Alma-Tadema (1836-1912), den begabten Maler mit Vorliebe für schlüpfrige Sujets in antiken Kontexten, habe ich schon in einem früheren Beitrag erwähnt. Er hat aber – das muß zu seiner Ehrenrettung gesagt sein – nicht nur halb- oder ganz nackte Damen aus der griechischen und römischen Antike gemalt, sondern gelegentlich auch zeitgenössische Motive und Portraits. Es gibt sogar dieses lepidopterologische Bild mit dem Titel „94 Degrees in the Shade“. Diese 94 Grad sind natürlich Grad Fahrenheit und entsprechen somit 34° Celsius. Für britische Verhältnisse – das Bild entstand bei Godstone in Surrey in Südengland – war das damals wohl eine Mordshitze.

Lawrence Alma-Tadema – 94 Degrees in the Shade (1876). © Fitzwilliam Museum

Wir sehen einen jungen Mann, der am Rand eines abgeernteten Getreidefelds im Schatten am Boden liegt und in ein aufgeschlagenes Buch mit Schmetterlingsabbildungen vertieft ist. Das Fangnetz liegt neben ihm. Er trägt helle, dünne Sommerkleidung und eine Kopfbedeckung, die mich immer an einen Tropenhelm erinnert hat, was dem Bild einen exotischen Einschlag verleiht. War das in heißen Sommern auch in England üblich? Spielt der junge Mann einen Tropenforscher? Oder soll die Kleidung nur die Hitze verdeutlichen?

Wäre nicht die Baumreihe im Hintergrund und die grüne Vegetation im Vordergrund, könnte man sich angesichts des Tropenanzugs nach Ägypten oder Indien versetzt fühlen; dort liefen die Kolonialbeamten gern so gekleidet herum.

Der Dargestellte ist der siebzehnjährige Herbert Thompson, der Sohn von Alma-Tademas Freund Sir Henry Thompson, einem bekannten Chirurgen und Hobbymaler. Herbert bezog kurz darauf die Universität Cambridge und wurde Rechtsanwalt und Ägyptologe. Die Schmetterlinge waren wohl nur eine vorübergehende Neigung gewesen.

Ein schönes Portrait des jungen Herbert hat Alma-Tadema auf eine der Türen von Sir Henrys Hausboot gemalt, auf dem er 1876 zu Gast war. Auf dieser Fahrt entstand auch „94 Degrees in the Shade“.

Ob das dargestellte Buch ein Phantasieprodukt ist oder ob es ein Kenner der englischen Schmetterlingsliteratur vielleicht sogar identifizieren könnte? Viel läßt sich nicht erkennen: Ein großer Falter und darunter vielleicht eine Raupe(?) in Schwarzweiß auf einer ungeraden Seite; auf der geraden Seite daneben wohl Text. Das wird kaum ausreichen, selbst wenn es ein Porträt eines realen Buchs sein sollte.

Getreidefelder sind mir aus der englischen Literatur in einem anderen Fall als Lebensraumelement einer Schmetterlingsart im Gedächtnis geblieben. In „Aberrations of British Butterflies“ schreibt A. D. A. Russworm über Lysandra coridon in Südengland: „When working this species in the past, the author has recollections of sun-drenched landscapes with fields of ripe corn stretching away until lost in the August heat haze.“ Da hat er Glück gehabt, denn das ist nicht so ganz das typisch englische Wetter und erinnert an südlichere Gefilde.

Alma-Tademas Hochformat hat treffliche Verwendung als Titelbild des Buchs „The Aurelian Legacy“ gefunden, das die Erforschungsgeschichte der britischen Tagfalter und die bedeutendsten Tagfalter-Lepidopterologen Großbritanniens behandelt. Merkwürdiger-weise wurde das Bild auf dem Umschlag seitenverkehrt gedruckt, ohne daß ein erkennbarer Grund dafür vorliegt.

Für mich bleibt „94 Degrees in the Shade“ ein entomologisches Wohlfühl-Bild, weil es an sommerliche Exkursionen, unbeschwerte jugendliche  Freilandarbeit und das spannende Kennenlernen neuer Arten erinnert.

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Eine Antwort zu 94 Grad im Schatten – Lawrence Alma-Tadema: Ninety-four degrees in the shade

  1. Gilbert schreibt:

    Das Malen halb- oder ganz nackte Damen aus der griechischen und römischen Antike gefährdet nicht die Ehre.

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