„Umnebelnd Himmelsglut“

Dies ist ein entomo-etymologischer Essay über die Spanischen Fahnen. „Warum der Plural?“ wird hier mancher fragen. Weil es nämlich – das wissen Sie wahrscheinlich – nicht nur eine Art gibt, die so heißt; weil es – das mag überraschen – nicht nur zwei Arten gibt, die so heißen, sondern – passen Sie auf – weil es drei Arten gibt, die so heißen. Wie das kam, erzählt der folgende Beitrag. Ich bin mir nicht sicher, ob er in die literarische Gattung der Komödie oder des Trauerspiels einzuordnen ist; vielleicht ist es doch eher eine Groteske. Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung.

 

„Umnebelnd Himmelsglut“

Russische Bären, Spanische Fahnen, weißgefleckte Afterbärenphalänen
und andere Sternstunden deutscher Namenserfindungswut

Call me any name you like,
I will never deny it.
Bob Dylan, Farewell Angelina

Einleitung

Das „Spanische-Fahne-Problem“ bietet eine hervorragende Einführung in die Vielschichtigkeit und Komplexität der Verwendung landessprachlicher Namen für Insekten. Zumindest würden es manche Euphemistiker als Vielschichtigkeit und Komplexität bezeichnen; ich nenne es schlicht das übliche Chaos: Chaos deshalb, weil es für jeden Außenstehenden einfach ein undurchschaubares Chaos ist und üblich, weil es eher den Regelfall als eine Ausnahme darstellt. 

Für diejenigen, die die Sachlage nicht kennen, sei nur gesagt, daß der Name „Spanische Fahne“ in der neueren Literatur abwechselnd auf zwei Bärenspinnerarten bezogen wird, nämlich auf Callimorpha dominula und auf Euplagia quadripunctaria. Ursprünglich aber gehört er zu keiner von ihnen, wie wir gleich sehen werden.

Beide standen früher in der Gattung Callimorpha, gelegentlich in Panaxia, ganz früher in Euprepia/Eyprepia oder Bombyx und im 18. Jahrhundert natürlich in Phalaena oder Phalaena (Noctua). Bis ins 19. Jahrhundert war quadripunctaria unter ihrem Linnéischen Artnamen hera Linnaeus, 1767 bekannt, dann setzte sich allmählich der ältere und deshalb gültige, wenn auch weniger schöne Artname quadripunctaria Poda, 1761 durch. Ich werde die beiden Arten im folgenden Text der Einfachheit halber Dominula und Quadripunctaria nennen.

Callimorpha dominula                                                                Euplagia quadripunctaria

Betrachtet man lediglich die jüngste Vergangenheit, dann hält sich die Namensflut scheinbar in Grenzen. Wir finden für Dominula die Namen Schönbär und Spanische Fahne und für Quadripunctaria die Namen Russischer Bär, Spanische Fahne und Spanische Flagge.

Blättern wir aber bis zu den Anfängen der deutschsprachigen Schmetterlings-Namensgebung zurück, so sieht die Sache anders aus. Im Gefolge der von Linné eingeführten binären Nomenklatur, die es erstmals erlaubte, Organismen mit kurzen, knappen und eindeutigen wissenschaftlichen Namen zu identifizieren, begann man damals ganz allmählich, auch für Insekten deutsche Artnamen zu erfinden. Vorher hatte es nur unbefriedigende Versuche dieser Art gegeben. Sie kennen vielleicht die berühmten „Insecten-Belustigungen“ des Nürnberger Miniaturmalers August Johann Rösel von Rosenhof. Rösel schrieb in den 1740er und 1750er Jahren, als Linné für die Tiere noch keine binären Namen eingeführt hatte. Rösel benutzte zur Kennzeichnung der Arten lange und umständliche Bezeichnungen wie etwa die folgende für Dominula: „Die auf den Wollenweiden und Eschen sich aufhaltende, mit dreyfacher gelber Bordirung ausgezierte schwarze Raupe, welche sich in einen schönen Nacht=Vogel der zweyten Classe verwandelt“. Oder für Quadripunctaria: „Die schwarzköpfige, hellgelb bordirte und mit einem oraniengelben Rückenstreif, nebst dergleichen steifhaarigen Knöpfen gezierte Raupe, mit ihrer Verwandlung in einen schönen Nachtpapilion der zweyten Classe“. Das waren seine Kapitelüberschriften; als wirkliche Namen kann man diese Beschreibungen eigentlich nicht bezeichnen. Im Text verwendete Rösel gekürzte Bezeichnungen oder einfach nur Hinweise, auf welcher Tafel eine Art abgebildet war.

Als sich dann Linnés Nomenklatur allgemein durchsetzte, wurden auch landessprachliche deutsche Namen für Schmetterlingsarten erfunden. Die große Vielzahl der Namen – selbst für die häufigeren Tagfalter – denen man in dieser Zeit begegnet, zeigt, daß es kaum wirklich im Volk eingebürgerte Namen gegeben hatte. Allenfalls galt das für höhere Einheiten wie Familien oder Familiengruppen – etwa „Weißling““, „Bläuling“, „Spinner“ oder „Spanner“ und für ganz wenige Arten, etwa „Zitronenfalter“. Manchmal dürfte es sich um regionale Bezeichnungen gehandelt haben, die dann mit anderen regionalen Bezeichnungen konkurrierten – etwa „Schwärmer“ und „Schnurrer“ für die Sphingidae oder „Widderchen“ und „Blutströpfchen“ für die roten Zygaenen. Deutsche Namen für einzelne Arten wurden aber in den meisten Fällen erst von den Autoren erfunden, die über sie schrieben, also von den Entomologen. Im Volksmund gibt es erfahrungsgemäß keine Namen für Arten, die das Volk gar nicht unterscheiden und als verschiedene Arten erkennen kann.

Ornithologische Ouverture

Wenn deutsche Namen nach ihrem zeitlichen Vorrang beurteilt würden, so wie es bei den wissenschaftlichen Namen der Fall ist, dann müßte Dominula im Deutschen Der Specht heißen. Jedenfalls ist das der älteste deutsche Name, der mir bisher vorgekommen ist, erfunden von Hufnagel im Jahr 1766. Warum gerade „Specht“? Vielleicht erinnerte die schwarz-weiß-rote Färbung des Falters den ornithologisch interessierten Hufnagel an die Färbung der Buntspechte? Obwohl der Name für einen Falter ein wenig lächerlich klingt – aber andererseits lacht ja auch keiner über den „Eisvogel“ oder den „Fuchs“, nicht wahr? – also, obwohl der Name etwas merkwürdig klingt, ist er bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Literatur nachweisbar: Fischer und Lutz (beide 1904) scheinen die letzten Autoren gewesen zu sein, die ihn für Dominula benutzt haben.

Wer hätte es gedacht: Es begann mit Arctia plantaginis

Von 1773 bis 1776 gab der Erlanger Professor Philipp Ludwig Statius Müller eine deutsche Bearbeitung von Linnés „Systema Naturae“ (12. Aufl.) heraus, in der er für die meisten Arten deutsche Namen einführte. Hier taucht der Name Spanische Fahne 1774 zum ersten Mal auf. Unter Nummer 42 behandelt Müller „Die spanische Fahne. Phalaena Plantaginis“. Es handelt sich um die Art, die wir heute als Wegerichbär, Arctia plantaginis, kennen. Auf der dazugehörigen Tafel 22, Abb. 4 ist aber Euplagia quadripunctaria abgebildet.

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Des Ritters Carl von Linné Königlich Schwedischen Leibarztes [et

Und noch ein weiteres Mal kommt der Name bei Müller vor: Unter Nummer 91 findet sich „Die spanische Fahne. Phalaena Hera.“ mit der Bemerkung, sie sei wohl verwandt, wenn nicht sogar identisch mit Phalaena Plantaginis. Offenbar kannte Müller die echte Arctia plantaginis nicht, so daß ihm dieser Irrtum unterlaufen konnte.

mueller-1774-phalaena-hera

Esper und Brahm, die Müllers Werk zitierten, nannten für beide Arten, für Arctia plantaginis und für Euplagia quadripunctaria, den deutschen Namen „Die spanische Fahne“. Brahm schreibt über Müllers Eintrag zu Phalaena plantaginis:

„Müller Linn. Naturf. V. Th. S. 664 nr. 42. die spanische Fahne (Hier ist die Phal. Hera abgebildet).“

Esper formuliert, nicht sehr verständlich, in seiner Literaturübersicht zu Quadripunctaria:

esper-ueber-mueller

Gleich im folgenden Jahr 1775 kommt der Name „Spanische Fahne“ in Johann Caspar Fuesslys „Verzeichnis der ihm bekannten Schweizerischen Inseckten“ vor. Und hier wird er eindeutig für Bombyx Plantaginis = Arctia plantaginis, den Wegerichbär, verwendet. Quadripunctaria heißt bei Fuessly dagegen „Die Hausfrau“, Dominula heißt wie bei Müller „Die Jungfer“.

Von da an erscheint die Spanische Fahne als deutscher Name von Arctia plantaginis in einer ganzen Reihe von Werken, darunter bei Mader (1777, 1785), Gesenius (1786), Berge (1842, 1851), Hoffmann (Berges Schmetterlingsbuch, 3. Auflage 1863), Glaser (1863, 1887) und Strässle ([1867]). Der Name bleibt der Art aber nur bis ins späte 19. Jahrhundert. Bereits bei Denis & Schiffermüller (1775, 1776) findet sich der Name „Wegerichspinner“, der ebenfalls von mehreren späteren Autoren verwendet wird, und ab Ende des 19. Jahrhunderts tritt der Name „Wegerichbär“ auf, der sich seitdem verbreitet hat. Im 20. Jahrhundert wird in der deutschsprachigen Literatur fast durchgehend „Wegerichbär“ verwendet, nur Eckstein (1923) benutzt „Bunter Wegerichbär“ und Bergmann (1953) erfindet „Bergheiden-Wegerichbär“.

Botanische Anklänge

Was tat sich inzwischen bei den beiden anderen Arten? Denis & Schiffermüller (1775) hatten in ihrer „Ankündung eines systematischen Werkes von den Schmetterlingen der Wienergegend“ Dominula den „Hundszungespinner“ und Quadripunctaria den „Beinwellspinner“ genannt: Sie bevorzugten, wann immer es möglich war, Benennungen nach den Raupennahrungspflanzen, auch wenn solche Namen bei polyphagen Arten nicht sonderlich aussagekräftig sind. Dennoch hielten sich beide Bezeichnungen noch weit ins 19. Jahrhundert hinein; der Beinwellspinner wird in der (mir zugänglichen) Literatur sogar noch 1904 erwähnt.

Die Namensschmiede des ausgehenden 18. Jahrhunderts

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erschien eine ganze Reihe von Werken über Schmetterlinge, die heute weitgehend vergessen sind. Einige waren Kompilationen, etwa der „Raupenkalender, oder Verzeichnis aller Monate, in welchen die von Rösel und Kleemann beschriebene und abgebildete Raupen nebst ihrem Futter zu finden sind“ [sic] (Mader 1777, 1785/86). Andere waren ohne wissenschaftlichen Wert, so die kindische „Beschreibung neuer Europäischen Schmetterlingen [sic] die weder im Rösel noch Kleemann beschrieben stehen“ (Gladbach 1777) und das „Nahmen- und Preissverzeichniss sowohl der Schmetterlinge oder der Tag-, Dämmerungs- und Nachtvögel als auch der Insecten oder der Erd- und Wasserkäfers“ [sic] (Gladbach 1778). Das forstwissenschaftliche Werk von Gleditsch (1775) ist mir bisher nur als Zitat bekannt.

Man kann wohl sagen, daß diese Periode so etwas wie die „kambrische Explosion“ für die Erfindung deutschsprachiger Schmetterlingsnamen gewesen ist. Fast jeder Autor erfand neue Namen und brachte sie an die Öffentlichkeit, wo sie dem Selektionsprozeß durch nachfolgende Autoren unterworfen waren.

Im Raupenkalender von Mader, der 1777 und in einer 2. Auflage 1785 und 1786 erschien, wurden die in den Rösel- und Kleemannschen Werken behandelten Arten nach der Raupenzeit gegliedert auf 120 Seiten aufgelistet. Hier findet sich nun zum ersten Mal der Russische Bär – und natürlich ohne jede Erläuterung, wie es bei deutschen Namen geradezu die Regel ist.

Dominula: „Die schwarze Raupe mit dreyfachgelber Bordierung des Nachtvögel 2ten Classe Papilions: Dominula, die Jungfer, der Specht.“

Hera: „Die schwarzköpfige, hellgelbbortierte und mit einem oraniengelben Rückenstreif, nebst dergleichen steifhäärigen Knöpfen gezierte Raupe des Nachtvögel 2. Cl. Papilions: Hera, die spanische Fahne, der Rußische Bär.“

In Gladbachs Nahmen- und Preissverzeichniss von 1778 hieß Quadripunctaria „der russische“ oder „Zahlbär“ und Dominula „Der liebreiche Bär“. Bei Goeze (1781) findet sich erneut der „Russische Bär“.

Espers Mammutwerk „Die Schmetterlinge in Abbildungen nach der Natur“ (1776-[1807]) erschien über Jahrzehnte hinweg in hunderten von einzelnen Lieferungen, aufgeteilt auf Nachträge, Anhangsbände und Supplemente und wurde von einem modernen Bibliographen nur wenig übertrieben als „an entomologist’s and a librarian’s nightmare of confusion“ beschrieben (Heppner 1981). Aber was uns im Moment daran interessiert, sind die deutschen Namen aus der damals aktuellen Literatur. 1787 behandelte Esper unsere beiden Bärenspinner. Für Dominula listet er auf: „Die Dominula“, „das Fräulein“, „der Specht“ „Hundszungen=Spinner“. Quadripunctaria bezeichnet er als: „Die Hera“, „die Hausfrau“, „die russische Bärenphalene“, „die spanische Fahne“.

Es gab also in dem kurzen Zeitraum von 10 Jahren (1777-1787) mindestens vier Autoren, die den Namen Russischer Bär oder Varianten davon benutzten.

Mader und Esper sind außerdem die ersten Autoren nach Müller, die den Namen „spanische Fahne“ auf Quadripunctaria beziehen. Das sollte von nun an Schule machen.

Borkhausen (1790), der ebenfalls für viele Falter gleich mehrere deutsche Namen nennt, bietet für Dominula die Alternativen „das Fräulein“, „die weißgefleckte Afterbärenphaläne“ [was für ein göttlicher Name] und „der Hundszungenspinner“ an und für Quadripunctaria „die Hausfrau“, „die bandirte Afterbärenphaläne“ [ebenfalls köstlich] und „die Spanische Fahne“.

Brahm (1791), der gleichfalls in diesem Zeitraum schrieb, erfand für Dominula den Namen „Eschenspinner“. Für Quadripunctaria verwendete er „Beinwellspinner“ und „Spanische Fahne“.

Lang (1789) scheint wie Borkhausen bemüht gewesen zu sein, im deutschen Namen die Verwandtschaft der Arten anklingen zu lassen; er benutzte für Dominula „der Fräule[i]nnachtfalter“ (eine Abwandlung der Jungfer und des Fräuleins) und für Quadripunctaria „der Frauennachtfalter“ (wir erinnern uns: die Art war damals noch nach Hera benannt).

Bei Esper wie bei Borkhausen und Brahm wird der Name „die Spanische Fahne“ nur auf Quadripunctaria bezogen, während Arctia plantaginis bereits der „Wegerichspinner“ ist.

Zwischenbilanz. So sieht die Übersicht für die Zeit vor 1800 aus:


Kleine Durststrecke im frühen 19. Jahrhundert

Im beginnenden 19. Jahrhundert hielt die Publikationstätigkeit der deutschsprachigen Lepidopterologen zwar an – zu nennen sind vor allem die Werke von Hübner, von Ochsenheimer & Treitschke und von Freyer – aber die Zahl der Bücher, in denen noch deutsche Namen vorgeschlagen werden, läßt etwas nach.

Noch ganz auf Fabricius beruhend hat Nagel (1809) ein Werkchen herausgegeben, das er „Versuch einer lepidopterologischen Encyklopädie für angehende deutsche Schmetterlingssammler“ nannte. Hier heißt Dominula „Taubnesselspinner“, „Rothe[r] Bär“, „die Jungfer“, und Quadripunctaria heißt „Weidrichspinner“, „Gestreifte[r] Bär“, „das Zebra“, „die spanische Fahne“. Ein Raupenkalender von Vogel (1837) nennt Dominula „das Frauchen“ und Quadripunctaria „die spanische Fahne“. Die 1841 von Treitschke herausgegebene „Naturgeschichte der europäischen Schmetterlinge. Schwärmer und Spinner“ zielte auf ein allgemeineres Publikum und enthält deutsche Namen, die Treitschke von Denis & Schiffermüller übernommen hat, also: Dominula = „Hundszungenspinner“; Quadripunctaria = „Beinwellspinner“).

Berge

Nun folgt ein Werk, das in seiner ersten Auflage zwar noch recht dilettantisch daherkam, aber offenbar eine Marktlücke füllte und sehr populär wurde: Friedrich Berges „Schmetterlingsbuch“ von 1842, das bis 1910 acht weitere Auflagen durchlief und dabei – bearbeitet von kompetenteren Lepidopterologen – an Qualität gewann. Auch Berge hat eine Reihe von Namen aus der Literatur gesammelt. Für Dominula gibt er an: „Hundszungenspinner“, „Dominula“, „Fräulein“, „Jungfer“, „Specht“ und „liebreicher Bär“. Der „Liebreiche Bär“ hat auch das Zeug zum Klassiker, finde ich. Er wurde noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Literatur zitiert (Lutz 1904). Für Quadripunctaria finden sich bei Berge die Namen „Beinwellspinner“, „Spanische Fahne“, „Hausfrau“ und „Russischer Bär“. Sie merken: allmählich wiederholt sich alles.

Zahlreiche populäre Werke im späten 19. Jahrhundert

Die weitere Entwicklung können Sie dem folgenden Tabellenteil entnehmen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen nicht nur viele wissenschaftliche Werke (ohne deutsche Namen), sondern auch immer zahlreichere Schmetterlingsbücher für Anfänger oder Jugendliche, die deutsche Namen enthielten. Dazu gehörten etwa Julius Hoffmanns „Der Schmetterlingssammler“ (in drei Auflagen, 1877-1889), Ernst Hofmanns „Der Schmetterlingsfreund“ (in 10 Auflagen, 1883-1919) oder F. Strässles „Schmetterlingsbuch“ (in 5 Auflagen, [1867]-um 1900).

Alexander Bau, der 1886 ein „Handbuch für Schmetterlings-Sammler“ veröffentlichte, das noch mehrere Auflagen bis ins 20. Jahrhundert hinein erlebte, versuchte, die deutsche Namensgebung zu vereinheitlichen und zu strukturieren. Er schlug einheitliche Namensendungen für jede Gattung vor und erfand für unsere beiden damals noch in derselben Gattung stehenden Bären den „Weißgefleckten Schönbär“ (Dominula) und den „Weißbindigen Schönbär“ (Quadripunctaria), womit er an die weißgefleckte und die bandirte Afterbärenphaläne anknüpfte.

Und noch eine Verwirrung mehr: ein Mischname

1888 gab Spannert für Quadripunctaria den Namen „Russische Fahne“ an. Ich halte das für einen schlichten Schreibfehler beziehungsweise eine klassische Freudsche Fehlleistung, denn bei Dominula zitiert Spannert „Jungfernbär“ und „Harlekin“, also wäre bei Quadripunctaria statt „Russischer Bär, Russische Fahne“ wohl „Russischer Bär, Spanische Fahne“ zu erwarten gewesen.

Merkwürdigerweise findet sich aber auch später in Karl Ecksteins weitverbreitetem Werkchen „Die Schmetterlinge Deutschlands“, das von 1913 bis 1933 in der Schriftenreihe des Deutschen Lehrervereins für Naturkunde erschien (die Bären in Band 4 von 1923) und viel von Schülern benutzt wurde, die folgende Namensgebung: Dominula = „Jungfernbär“; Quadripunctaria = „Spanische Flagge“, „Russische Fahne“! Ich weiß nicht, was davon zu halten ist; erklären kann ich es nicht. Später haben Freina & Witt (1987) diesen Namen erneut zitiert.

Bei Max Korb, der 1893 ein Handbuch der Schmetterlinge Mitteleuropas herausbrachte, scheint ein weiterer Lapsus vorgekommen zu sein. Korb nennt Quadripunctaria „die Spanische Flagge“, aber für Dominula verwendet er den Namen „Hausfrau“, der seit seiner Einführung durch Fuessly, also seit den 1770er Jahren, stets für Quadripunctaria gebraucht wurde. Es muß sich hier um einen echten Irrtum handeln, und im Gegensatz zur Russischen Fahne ist es auch ein Einzelfall geblieben.


Die zweite Namensübertragung und die Flagge-Fahne-Dichotomie

Fragen Sie mich nicht nach dem Grund. Hans Rebel war ein eminenter Fachmann; er hätte es besser wissen müssen. 1910 gab er nach mehrjährigen Vorarbeiten die neunte und letzte Auflage des von Berge begründeten „Schmetterlingsbuchs“ heraus, dessen voller Titel lautet: „Fr. Berge’s Schmetterlingsbuch nach dem gegenwärtigen Stande der Lepidopterologie neu bearbeitet und herausgegeben von Professor Dr. H. Rebel in Wien“. Dieses für die damalige Zeit sehr umfangreiche und anspruchsvolle Standardwerk erfreute sich großer Beliebtheit, und dies wird der Grund dafür gewesen sein, daß sich der unerklärliche Lapsus, den es enthielt, weiter verbreitete: Quadripunctaria heißt bei Rebel wie gewohnt „Russischer Bär“, aber Dominula trägt hier erstmals – und natürlich ohne Kommentar – den Namen „Spanische Fahne“! Keiner weiß warum. Es muß wohl ein schlichter Irrtum gewesen sein.

Vielleicht ist dieser Lapsus als Indiz dafür zu sehen, wie wenig solche Namen im Grunde inhaltlich mit den Schmetterlingen zu tun hatten, die sie bezeichnen sollen. Ich konnte nicht recherchieren, ob der Rebelsche Irrtum im lepidopterologischen Schrifttum um 1910 irgendwo kommentiert wurde; für diesbezügliche Literaturhinweise wäre ich dankbar. Sicher ist nur, daß er sich eingebürgert hat: Übernommen wurde die Namensübertragung „Spanische Fahne“ = Callimorpha dominula von Gaede (1929), Warnecke (1959), Forster & Wohlfahrt (1960), Reicholf-Riehm (1983) und Ruckstuhl (1994). Bei anderen Autoren durfte der „Schönbär“ „Schönbar“ bleiben, darunter Bergmann (1953), Koch (1955, 1964), Freina & Witt (1987), Weidemann & Köhler (1996), Ebert (1997) und das Schweizer Autorenkollektiv (2000).

In dieser Zeit zwischen 1910 und 1987 kam es in der deutschsprachigen Literatur zu einem weiteren merkwürdigen Phänomen. Diejenigen Autoren, die die Rebelsche Namensübertragung nicht mitmachten, benutzten für Dominula meist weiterhin den Namen „Schönbär“, aber für Quadripunctaria wird in schöner Einheitlichkeit nicht mehr die „Spanische Fahne“, sondern die „Spanische Flagge“ verwendet (sofern man nicht bei „Russischer Bär“ blieb). Das beginnt bei Spuler (1908-1910) und geht über Eckstein (1923), Koch (1955, 1964, 1984) und Friedrich (1975) bis Carter & Hargreaves (1987). Erst Freina & Witt (1987), Weidemann & Köhler (1996) und Ebert (1997) brachen den Bann und benutzten wieder „die Spanische Fahne“.

Eines ist immerhin beruhigend: Bisher hat es noch kein Autor fertiggebracht, in ein und demselben Werk Dominula als Spanische Fahne und gleichzeitig Quadripunctaria als Spanische Flagge zu bezeichnen. (Unwahrscheinlich? – Doch, doch, es gibt Leute, denen ich das zutrauen würde…)


Was bedeuten diese Namen eigentlich?

In den meisten Fällen haben sich die Erfinder der landessprachlichen Namen bei ihren Schöpfungen etwas gedacht. Wenn heutige Entomologen über deutsche Namen lächeln oder sich mokieren, dann tun sie das oft nicht deshalb, weil sie diese Namen unangemessen finden, sondern weil sie generell der Verwendung deutscher Namen für Insekten kritisch gegenüberstehen.

Manche Namen sind beschreibend oder nach Ähnlichkeiten gebildet, so wahrscheinlich „der Specht“, mutmaßlich wegen der Farbähnlichkeit mit Buntspechten der Gattung Dendrocopos, oder der „Harlekin / Harlequin“, wegen der Buntheit der Falter.

Andere Namen sind – mehr oder weniger gut geglückte – Übersetzungen. Dominula ist die Verkleinerungsform von domina, was Herrin oder auch Hausherrin, Hausfrau (von domus, das Haus) bedeuten kann. Darauf beruhen die Namen, „Jungfer“, „Jungfernbär“, „junge Herrin“, „Fräulein“, „Frauchen“. Warum Fuessly den Namen „Hausfrau“ gerade nicht der Dominula zuordnet, sondern der Quadripunctaria (zu Fuesslys Zeit hieß sie noch hera), wird wohl ein Geheimnis bleiben. Hera war die Gattin des Zeus, der seine erotischen Gelüste bekanntlich oft fern des heimischen Herdes auslebte; vielleicht wäre dies ein Ansatzpunkt für eine Interpretation. Oder vielleicht hat Fuessly, wie Spannert, Korb, Eckstein und Rebel, einfach kein besonderes Augenmerk auf die deutschen Namen gelegt. „Juno“ (der Name taucht bei Glaser auf) ist die römische Version von Hera.

Die Namen „Hundszunge(n)spinner“ und „Beinwellspinner“ sind der Biologie der Arten entlehnt. Bei Denis und Schiffermüller trugen fast alle Arten, deren Raupe ihnen bekannt war, Namen nach den Nahrungspflanzen, auch wenn die Raupen in diesem Fall – und auch in vielen anderen – polyphag und deshalb durch Pflanzennamen höchst ungenügend, manchmal geradezu irreführend charakterisiert sind.

Die in Entomologenkreisen zu Unrecht oft geschmähten, langen und umständlichen Namen Arno Bergmanns waren nicht zur Kommunikation gedacht, sondern als beschreibende Zusätze zu den wissenschaftlichen Namen. Bergmann versuchte insbesondere die Lebensräume in den Namen unterzubringen, damit sich auch der Laie eine gewisse Vorstellung von den ökologischen Ansprüchen der Arten machen konnte. Das ist ihm meistens gelungen, und auf diese Weise entstanden der „Buschhaldenflur-Prachtbär“ und der „Felsbuschheiden-Prachtbär“.

Einige Autoren bemühten sich, einheitliche Namensendungen für jede Gattung einzuführen, damit auch die landessprachlichen Namen eine systematische Einordnung auf Gattungsebene erlaubten. So erklären sich Borkhausens „weißgefleckte Afterbärenphaläne“ und „bandirte Afterbärenphaläne“, ebenso Baus „Weißgefleckter Schönbär“ und „Weißbindiger Schönbär“. Das Wort Schönbär, anscheinend erstmals von Bau verwendet, ist nichts anderes als die Übersetzung von Callimorpha (von griechisch kalos schön und morphe Gestalt) und dieselbe Ableitung gilt für Bergmanns Prachtbär.

Für „Russischer Bär“ habe ich nirgends irgendeine Erklärung gefunden. Für mich war das immer ein rätselhafter und unergründlicher Name: Die Art ist wärmeliebend und hat mit Rußland nichts weiter zu tun; sie ist weder dort entdeckt worden noch hat sie dort einen besonderen Verbreitungsschwerpunkt. Poda hat quadripunctaria aus der Umgebung von Graz beschrieben. Linnés Material von hera stammte aus Italien und Deutschland.

Bei so wenigen Anhaltspunkten greift man auch nach unwahrscheinlichen Spekulationen: Da der Name beim ersten Auftreten (das mir bekannt ist) mit ß geschrieben wurde, hatte ich kurz überlegt, ob eine Ableitung von Ruß gemeint gewesen sein könnte („Rußiger Bär“). Das paßt aber in keiner Weise zum Falter, auch nicht zu allen späteren Schreibweisen und hätte die Annahme eines gleich dreifachen Fehlers erfordert: großes statt kleines R, ß statt ss und sch statt g. Nein. Extrem unwahrscheinlich.

Den Namen „Spanische Fahne“ haben Müller 1774 und Fuessly 1775 ohne jede Erklärung verwendet. Erst ein Jahrhundert später findet sich in Ludwig Glasers etymologischem Werk „Catalogus etymologicus Coleopterorum et Lepidopterorum, Erklärendes und verdeutschendes Namensverzeichnis der Käfer und Schmetterlinge“ (1887) die erste und einzige Erläuterung, die ich zu dieser Namensgebung auffinden konnte. Glaser bemerkt zu Arctia plantaginis:

„Wegerich“- od. kleiner Bär, sog. spanische Fahne – wegen der Farben des ♀.

Wegen der Farben des Weibchens, soso. Rote Hinterflügel- und gelbe Vorderflügelgrundfarbe, zumindest bei einigen der zahlreichen Farbformen der Art. Unklar bleibt, ob Glaser lediglich eine Vermutung äußert oder ob er sich auf irgendeine alte Quelle stützt. Er nennt in seinem Werk nie Quellen zu den einzelnen Arten, aber er war jedenfalls ein sehr belesener und kenntnisreicher Entomologe.
Was ich nie verstehen werde ist, warum man nicht den Purpurbären (Diacrisia purpurata) Spanische Fahne genannt hat, denn der hat vorwiegend gelbe Vorderflügel und vorwiegend rote Hinterflügel ohne allzuviele zusätzliche Farben (ein paar braune und schwarze Flecken) und wenn er mit ausgebreiteten Flügeln sitzt, ist der Haupt-Farbeindruck wirklich gelb und rot – das ist das, was nach meinem Farbempfinden der spanischen Nationalfahne noch am nächsten kommt.

Egal. Viel merkwürdiger ist, daß Müller und Fuessly den Namen schon 1774 und 1775 benutzt haben, obwohl die spanische Nationalfahne (gelb mit roten Streifen oben und unten) erst im Jahr 1785 geschaffen wurde. Abgeleitet ist sie offenbar von Wappen und Flagge Aragoniens und Kataloniens: Die mittelalterliche Staatsgemeinschaft Corona de Aragón besaß eine Flagge aus schmalen, abwechselnd roten und goldenen Streifen. Auch die Flagge Kataloniens sieht so aus. Da kann man wahrscheinlich von Glück sagen, daß Müller das Tier nicht „Aragonische Fahne“ oder „Katalonische Fahne“ getauft hat.


Und was lernen wir daraus?

Ein kurzes Fazit.

  • Es gibt nicht weniger als drei Arten, für die der Name „Spanische Fahne“ gebraucht wurde.
  • Zum erstenmal wurde „Spanische Fahne“ für Arctia plantaginis benutzt und dann dreizehnmal für diese Art verwendet, im Zeitraum von 1774 bis 1895, später aber nicht mehr.
  • Am häufigsten wurde „Spanische Fahne“ auf Euplagia quadripunctaria bezogen, in der von mir durchgesehenen Literatur 29mal, im Zeitraum von 1777 bis heute (davon siebenmal in der Variante „Spanische Flagge“).
  • Sechsmal wurde der Name auf Callimorpha dominula bezogen, zwar erst seit 1910, darunter jedoch in weitverbreiteten Werken wie denen von Rebel, Warnecke und Forster & Wohlfahrt.

Rund 120 Jahre lang – von 1777 bis Ende des 19. Jahrhunderts – war der Name „Spanische Fahne“ gleichzeitig für Arctia plantaginis und Euplagia quadripunctaria in Gebrauch. Seit 1910 wird er für Callimorpha dominula und Euplagia quadripunctaria benutzt. Das Endergebnis ist natürlich, daß man mit dem Namen „Spanische Fahne“ heute nichts mehr anfangen kann; er ist nutzlos, gewissermaßen „verbrannt“, weil man nicht mehr weiß, welche Art er bezeichnen soll, wenn er alleine, das heißt ohne den wissenschaftlichen Namen, verwendet wird.

  • Von allen deutschen Namen für die zwei betrachteten Arten wurde am häufigsten „Russischer Bär“ benutzt: 34mal in der von mir durchgesehenen Literatur, und immer eindeutig auf Euplagia quadripunctaria bezogen.

Wie, wenn überhaupt, kann man diese Historie erklären? Zum einen ist mir bei der Literaturrecherche sehr deutlich geworden, daß die meisten Autoren sich nicht besonders um die deutschen Namen kümmerten – sonst wären einige der hier geschilderten Verwechslungen und Irrtümer nicht vorgekommen. Zum anderen zeigt sich, daß viele Lepidopterologen – auch und gerade die heutigen Autoren – nur geringe Kenntnisse der historischen Fachliteratur besitzen, weshalb ihnen die Namensproblematik oft gar nicht bekannt oder bewußt ist.

Ich bin nach meinem persönlichen Geschmack gefragt worden. – Nun, ich bin natürlich ein Fan von Borkhausens Weißgefleckter Afterbärenphaläne, denn deutsche Namen können mir gar nicht skurril genug sein. Auch der Liebreiche Bär und die Junge Herrin (gibt es eine bessere Übersetzung für eine Dominula, die Verkleinerungsform von Domina?) entlocken mir – wenn ich mal in der Stimmung für deutsche Namen bin – andachtsvolle Seufzer des Entzückens.

Ansonsten bestätigt diese Historie meine Ansicht, daß man mit deutschen Artnamen für Insekten meistens nicht allzuviel anfangen kann und sie tunlichst vermeiden sollte. Sie zeigt ferner, welcher Aufwand betrieben werden müßte, um die Geschichte der Namen zurückzuverfolgen und Irrtümer und Verwechslungen zu erkennen und aufzuklären. Ich habe die hier dargestellten Ergebnisse über einen Zeitraum von zwölf Jahren in verschiedenen Bibliotheken recherchiert – stückchenweise natürlich: zehn Minuten hier, eine Viertelstunde da. Die Digitalisierung der älteren Literatur macht schöne Fortschritte, aber manche der seltenen alten Werke des 18. Jahrhunderts sind nur in Bibliotheken vorhanden, und sie sind oft nicht über Fernleihe zu erhalten. Man muß also persönlich hinfahren, damit man sie – nach Voranmeldung, im Sonderlesesaal, in der ersten Reihe sitzend, unter Aufsicht der Bibliothekare und nachdem man diverse Formulare ausgefüllt, Kopierverbote und Sicherheitshinweise unterzeichnet hat – für einen bestimmten Zeitraum besichtigen darf. Wer solche Literaturrecherchen für sämtliche einheimischen Schmetterlingsarten durchführen wollte, würde ein Menschenalter dafür benötigen – wenn er nicht vorher den Verstand verliert.

Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.
(Goethe, Faust I)

 

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3 Antworten zu „Umnebelnd Himmelsglut“

  1. Hans schreibt:

    Punkt für Gilbert von Luck! Zudem ist das Chaos unter den wissenschaftlichen Namen, ob in Zoologie oder Botanik, auch nicht gering (… wie heißt der jetzt neuerdings?…)
    Rolf, das mag für die Blase der selbstverliebten „Fachleute“ zutreffen.

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  2. Gilbert von Luck schreibt:

    Der Einfachheit halber kann man die gebräuchlichen deutschen Namen im Gespräch mit Deutschsprachigen bei Unmissverständlichkeit durchaus verwenden – wie international in jeder Sprache üblich (Painted Lady).

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  3. Rolf schreibt:

    Nach den deutschen Namen sollte man ohnehin nicht gehen; ein Entomologe, der etwas auf sich hält, verwendet stets die wissenschaflichen Namen; ansonsten: alles für die Füße…

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