Schmetterlingskunde für Anfänger – „abgeflogene“ Falter

Was bedeutet „abgeflogen“ und warum ist es wichtig, diesen Zustand zu erkennen?

Der Spezialist vergißt gern, daß Begriffe, die er alltäglich und ohne nachzudenken benutzt, für den Nichtfachmann unverständlich oder doch zumindest sehr mißverständlich sein können. Dazu gehören nicht nur die aus dem Lateinischen und Griechischen stammenden Fachbegriffe, sondern auch einige deutsche Wörter, die im entomologischen Fachjargon eine ganz besondere Bedeutung angenommen haben.

Unter einem „abgeflogenen“ Falter könnte man sich einen vorstellen, der gerade gestartet ist, oder einen, der dem Entomologen weggeflogen ist. Tatsächlich bedeutet „abgeflogen“ in Bezug auf einen Schmetterling ein Exemplar, das durch vieles Herumfliegen bereits mehr oder weniger stark beschädigt ist. Beim Fliegen – wie auch beim Kriechen durch die Vegetation oder durch die Einwirkung von Wind und Regen – gehen nämlich die Flügelschuppen allmählich verloren. Ein abgeflogener Falter ist also einer, der schon viele Schuppen verloren hat, der sich bereits abgeflattert hat.

Und warum ist das von Belang? Weil es zur Bestimmung des Falters eminent wichtig ist. Wenn wir nicht erkennen können, ob wir es mit einem frischen oder einem abgeflogenen (alten, beschädigten) Falter zu tun haben, können wir auch die Bestimmungsmerkmale nicht wirklich beurteilen.
Zweitens die Flugzeit: Da selbst nahe verwandte Arten unterschiedliche Flugzeiten haben können, hilft uns der Zustand des Falters bei der Einschätzung seines Lebensalters und damit seines ungefähren Schlupfzeitraums.

Vergleichen wir die beiden folgenden Bilder. Beide zeigen dieselbe Art, den alpinen Eulenfalter Actebia multifida, das erste Foto einen frischen Falter zu Beginn der Flugzeit im Juni, das zweite einen „abgeflogenen“ Falter zu Ende der Flugzeit im Oktober. Der Anfänger hätte hier Schwierigkeiten, den abgeflogenen Falter überhaupt sicher zuzuordnen, aber nehmen Sie mein Wort darauf, daß es sich um dieselbe Art handelt. Die Falter variieren nicht einmal besonders stark; die Unterschiede, die wir hier sehen, sind tatsächlich altersbedingt beziehungsweise dem Erhaltungszustand zuzuschreiben.

Also, was sehen wir hier oder vielmehr: was sollten wir bei einem kritischen Blick erkennen können?

Der erste Blick geht immer zum Außenrand der Flügel[1]. Dort sitzen beim frischen Falter die langen, schmalen Fransenschuppen. Das sind die, die dort ansetzen, wo die eigentliche Flügelfläche endet, hier an der Reihe schwarzer Dreiecksflecke. Die Dreiecksflecke bestehen noch aus den üblichen kurzen, dachziegelartig angeordneten Flügelschuppen und liegen auf der Flügelmembran; was jenseits davon kommt, sind die Fransen. Es gibt sie in zwei Längen, die hier durch die etwas dunklere bzw. hellere Färbung angedeutet sind. Solange sie noch vollständig sind, bilden sie einen gerade abschließenden Rand – oder wie hier einen leicht gewellten Rand, denn auch der Rand der Flügelmembran ist schwach gewellt.

Sobald der Falter fliegt, sich bewegt, klettert, an Pflanzen anstößt, sich unter Steinen oder in Rindenritzen versteckt, gehen Schuppen verloren, und am Verlust der Fransenschuppen läßt sich das meist am schnellsten und leichtesten erkennen: die Flügelaußenränder wirken dann „ausgefranst“ wie beim Falter auf dem zweiten Bild. Das kann durchaus noch weiter gehen; manche Falter verlieren tatsächlich so gut wie alle Fransenschuppen, so daß nur noch der Rand der Flügelmembran da ist, und die kann dann auf den allerersten Blick wieder gerade und gleichmäßig wirken. Hier ist genaues Hinschauen gefragt.

Als zweites sehen wir uns die Flügelfläche an. Auch hier ist der Schuppenverlust sehr auffällig: Die Zeichnungen und die Farben werden durch die Schuppen gebildet, und je mehr Schuppen fehlen, umso undeutlicher wird die Zeichnung und umso blasser werden die Farben. Zusätzlich verblassen die Farben auch einfach durch Lichteinwirkung, was sich hier zum Beispiel auf dem Rücken (Thorax) zeigt. Die Thoraxbehaarung selbst geht auch oft verloren, so daß der rotbraune Chitinpanzer sichtbar wird, den viele Anfänger nicht recht deuten können. Im Lepidopterologen-Jargon haben solche Tiere eine „Glatze“.

Die Flügelmembran selbst ist durchsichtig. Das kann man selber nachprüfen, indem man einen Falter (bitte ein Exemplar einer robusten und häufigen Art) in die Hand nimmt und mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig(!) an der Flügelspitze des Vorderflügels „zieht“ oder vielmehr nach außen wischt, so daß sich auf der Ober- und der Unterseite Schuppen lösen. Was man dann an den Fingern hat, sind die einzelnen Schuppen, die man unter einer starken Lupe oder – falls vorhanden – unter einem Binokular oder Mikroskop auf ihre Vielgestaltigkeit hin betrachten kann. Am Falter kann man nach ein- oder mehrmaliger Behandlung dieser Art (wie gesagt: vorsichtig!) sehen, daß die Membran genauso durchsichtig ist wie bei den meisten anderen Insekten auch.


Hier der Flügelrand eines Eulenfalters (Trachea atriplicis, Meldeneule). Der Falter ist nahezu frisch oder, wie ein Sammler sagen würde, fast fransenrein. Der obere Pfeil bezeichnet den Rand der Flügelmembran. Dort setzen die Fransenschuppen an: kürzere (die bis zum mittleren Pfeil reichen) und lange (bis zum unteren Pfeil). Sie besitzen lange, schmale Stiele und sind oft mehrfarbig, so daß der Fransensaum bei manchen Arten in der Mitte einen Farb- oder Helligkeitswechsel zeigt. Auch die Schuppenfarbe der Flügeladern kann sich bis in die Fransen fortsetzen – hier in Form der halblangen weißen Schuppen zu sehen. Bei diesem Tier fehlen bereits einige der langen, äußeren Fransen.


Bei frischen Exemplaren wie diesem Russischen Bär (Euplagia quadripunctaria) bilden die Fransen noch einen einheitlich geraden Außenrand. Geringe Fransenverluste fallen in diesem Zustand besonders auf (hier nahe der linken Vorderflügelspitze).

Dieses am selben Tag und Fundort beobachtete Exemplar ist ebenfalls ziemlich frisch, hat aber schon Feindberührung gehabt: Die Flügelränder lassen erkennen, daß ein Freßfeind (unerfahrener Vogel?) zugeschnappt und den Falter am Außenrand der Flügel gepackt hatte. Dabei sind Schuppen verlorengegangen und es haben sich mehrere Risse in der Flügelmembran gebildet. Vielleicht ist der Falter entkommen, weil er seine roten Hinterflügel gezeigt und dem Freßfeind eine Schrecksekunde beschert hat.


Links eine frische, rechts eine abgeflogene Pyramideneule (Amphipyra pyramidea). Wenn die Schuppen auf der Oberseite der Flügel verlorengehen, kann man oft durch die Flügelmembran hindurchsehen. Man erkennt dann aber zunächst nicht die Beschuppung der Hinterflügel sondern die Rückseite der auf der Vorderflügel-Unterseite sitzenden Schuppen, die meistens einfarbig grau oder braun ist. Erst wenn auch diese verlorengehen, was bei der Sitzhaltung von Nachtfaltern nicht so schnell geht wie bei den Oberseitenschuppen, wird eine Durchsicht möglich.


Zwei Argusbläulinge (Plebejus argus) aus einer Schlafgesellschaft. Der rechte, fast noch frische Falter zeigt nur wenige Lücken in den Fransenschuppen, aber auch von den silberblauen Glanzschuppen in den schwarzen Randflecken der Hinterflügel sind schon einige verloren gegangen. Der linke Falter hat an den Vorderflügelspitzen schon sämtliche Fransen verloren, was bei diesem leichten Gegenlicht besonders auffällt. Auf der Flügelfläche hat er die hellblauen und weißen Schuppen so weit verloren, daß die Grundfarbe ein dunkles Grau geworden ist und die orangen Flecken sind stark verblasst. Aus der Entfernung machen die beiden fast den Eindruck unterschiedlicher Arten, was durch den leichten Größenunterschied unterstützt wird, der aber innerhalb der normalen Variationsbreite liegt.


Hier einige Exemplare des Gitterspanners (Chiasmia clathrata; betäubte Falter aus einer Lichtfalle). Oben zwei frische Falter, in der Mitte ein etwas abgeflogenes Tier, unten zwei stark abgeflogene Falter.
Beachten Sie die kräftigen Farben und den vollständigen Fransensaum bei den frischen Faltern. Beim mittleren Tier sind die Fransen schon etwas abgestoßen, die dunkle Färbung ein wenig heller, das Gelb schwächer. Bei den stark abgeflogenen Faltern unten sind die charakteristischen gescheckten Fransen verschwunden und die Zeichnung stark verblasst.


Ohne weiteres als abgeflogen zu erkennen sind stark beschädigte Falter, die ganze Teile ihrer Flügelmembran verloren haben. Bei langlebigen Arten wie dem im Falterstadium überwinternden Tagpfauenauge (Aglais io [Inachis io]) wächst mit der Lebensdauer auch das Risiko von Beschädigungen. Trotzdem wirken viele dieser Falter im Frühling noch gut erhalten, es sei denn sie sind wie hier von einem Vogel angegriffen worden. Dieser Falter konnte noch gut fliegen.


Dieses Schachbrettfalter-Weibchen (Melanargia galathea) hat sowohl einen Feindangriff überstanden (Verluste an Flügelfläche) als auch einige Lebenstage auf dem Buckel (verblassende Farben, dünner werdendes Schuppenkleid).


Dieses Kaisermantel-Männchen (Argynnis paphia) zeigt sehr starke Beschädigungen, die vielleicht auf eine Kombination von Feindangriff und Wetterschaden zurückgehen. Dabei war es immer noch voll flugfähig, verfolgte längere Zeit eifrig ein Weibchen und vertrieb dabei auch einen frischeren Geschlechtsgenossen. Von den Duftschuppenstreifen, die bei der Balz eingesetzt werden, ist einer noch gut zu erkennen und wahrscheinlich funktionsfähig.

Damit ist auch eine Frage, die man von Kindern und Laien oft hört, beantwortet: Nein, den Faltern schadet das Fehlen von Schuppen und Haaren im allgemeinen nicht sehr; sie können auch mit bedeutenden Schuppenverlusten an Körper und Flügeln, ja selbst mit größeren fehlenden Flügelpartien nach einem Vogel- oder Fledermausbiß noch einigermaßen gut fliegen, Nahrung suchen und sich fortpflanzen. Nur wenn beim Tritt auf einen Falter der Körper gequetscht und verletzt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß er das nicht überlebt.

Noch ein Vergleich: Der hübsche Ampferspanner (Timandra comae). Oben ein frischer und noch dazu recht kräftig gefärbter Falter – nicht alle haben eine so intensive Rotfärbung – und darunter ein altes, verblasstes Männchen am Ende seines Falterlebens. Die Identifizierung ist anhand des charakteristischen Linienverlaufs möglich, aber von den Farben ist praktisch nichts übrig geblieben, die Fransen fehlen durchgehend und ein Freßfeind hat große Teile der Flügelfläche erwischt. Selbst dieses Tier kam noch zum Licht geflogen, konnte aber schon nicht mehr gut manövrieren.  Interessanterweise hat der Prädator nicht nach dem Kopf oder Körper geschnappt sondern nach den Hinterflügelschwänzchen – genau zu diesem Zweck (Ablenkung) sind sie da.

Extreme wie die zuletzt gezeigten Falter können auch Anfänger/innen leicht als beschädigt oder „alt“ erkennen. Die Kunst ist, den Erhaltungszustand auch bei mittelmäßig abgeflogenen Exemplaren richtig einzuschätzen und bei der Bestimmung zu berücksichtigen. Mit dem Blick auf die Fransen und der Suche nach Kratzern und fehlenden Schuppen auf der Flügelfläche (asymmetrisch erscheinende Zeichnung oder Färbung) sollte das eigentlich jedem gelingen.


[1] Nicht zu verwechseln mit dem Vorderrand oder dem Hinterrand. Die Bezeichnungen der Flügelteile und Zeichnungselemente sind hier erläutert.

Siehe auch
Schmetterlingskunde für Anfänger: Falter mit „rotem Rücken“

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