Vom Ei zum Falter in 30 Jahren

Yuccamotten: Die längste Dormanzperiode im Insektenreich

Wer Henry David Thoreaus Walden; or Life in the Woods gelesen hat, den Klassiker aller Aussteigerliteratur, erinnert sich vielleicht an den Schluß des Buchs. Auf der letzten Seite erzählt Thoreau von einem Käfer, der aus einem Tisch aus Apfelbaumholz geschlüpft sei, nachdem dieser Tisch sechzig Jahre lang, erst in Massachusetts, dann in Connecticut, in der Küche eines Farmers gestanden habe. Vor dem Schlupf habe man den Käfer wochenlang nagen gehört; sein Ei sei vielleicht durch die Hitze eines Teekessels „ausgebrütet“ worden. Thoreau braucht diese Geschichte als Aufhänger für seine Schlußbemerkung, in der er einen Bogen zur menschlichen Gesellschaft schlägt und Auferstehung und Unsterblichkeit bemüht. Man muß ihm zugestehen, daß er die Käfergeschichte als anekdotisch kennzeichnet, denn er beginnt sie mit den Worten: „Every one has heard the story which has gone the rounds of New England …“[1]. Offensichtlich hat sich die Anzahl der Jahre, die der Tisch in der Küche des Farmers stand, beim Herumerzählen vervielfacht. Bockkäfer (Cerambycidae) können aus verarbeitetem Holz schlüpfen, weil sie eine Larvenzeit von ein bis vier Jahren haben; beim Hausbock wurden ausnahmsweise auch mal Entwicklungszeiten bis zu zehn Jahren dokumentiert, aber das wars auch schon.

Sehr auffallend und deshalb gut bekannt sind die periodischen Zikaden (Magicicada) in den USA, die je nach Art einen 13- oder 17-jährigen Entwicklungszyklus haben und dann synchronisiert in Massen schlüpfen – immer wieder ein gefundenes Fressen für die Presse, oder heutzutage für die Internetmedien.

Allen diesen Arten ist gemeinsam, daß ihre Larvalentwicklung einfach nur sehr langsam abläuft. Anders ist es bei Insekten in Diapause. Die sind nicht mehr in Entwicklung begriffen, sondern die Entwicklung wird unterbrochen – sei es durch eine Überwinterung, eine Übersommerung oder eine Überbrückung anderer ungünstiger Zeiträume. Jeder Züchter kennt das Phänomen des „Überliegens“ von Puppen. Das heißt, aus einer überwinternden Puppe schlüpft der Falter nicht im folgenden Jahr, sondern erst im nächsten – oder im übernächsten oder überübernächsten. Das kann zwei Ursachen haben: Entweder der zur Einleitung der Falterentwicklung notwendige Reiz hat gefehlt (z.B. eine gewisse Anzahl Kältetage oder eine bestimmte Kältesumme) oder aber es ist genetisch verankert, daß ein Teil der Population überliegt, um den Schlupf sicherheitshalber auf mehrere Jahre zu verteilen.

Die Rekordhalter nicht nur unter den Schmetterlingen sondern unter den Insekten überhaupt sind die kleinen Motten, deren Entwicklung so eng mit den Yuccapflanzen verknüpft ist. Die Raupen fressen an den Yuccas und die Falter bestäuben sie – jedenfalls bei einigen Arten, den „echten“ Yuccamotten aus der Familie Prodoxidae. Diese Möttchen überwintern als Vorpuppe im Kokon, verpuppen sich erst im Frühjahr und schlüpfen wenige Wochen später. Aber wenn ihnen die Überwinterungsbedingungen nicht zusagen, verschieben sie die Verpuppung aufs nächste Jahr. Diese Erfahrung machte Jerry A. Powell. Er hatte im April 1970, etwa 6 Wochen vor Beginn der Flugzeit, im Kyle Canyon in Nevada Samenkapseln der 1969er Generation von Yucca baccata mit 2.000 bis 3.000 Kokons der Yuccamotte Prodoxus y-inversus gesammelt. Er hielt sie dann an seinem Wohnort und sie begleiteten ihn in den folgenden Jahren, wenn er die Stellung wechselte, von Universitätsstadt zu Universitätsstadt, aber nirgends hatten sie die optimalen Überwinterungsbedingungen wie in der Gebirgswüste von Nevada in 2.000 m Höhe.

Nach vielen Jahren ohne oder mit nur einzelnen geschlüpften Exemplaren kam es 1985 und 1986 zum Schlupf von über 180 Faltern. Der Schlupf erfolgte gut synchronisiert in Zeitfenstern von 15 bzw. 16 Tagen. Powell berichtete darüber in dem Artikel Synchronized mass-emergences of a yucca moth, Prodoxus y-inversus (Lepidoptera: Prodoxidae), after 16 and 17 years in diapause.

Siebzehn Jahre in Diapause, und das in einem so sensiblen Stadium wie es die Vorpuppe ist, war damals schon bemerkenswert. Aber das war eigentlich nur der Anfang der Geschichte. Powell begann nun, mit den Kokons zu experimentieren, teilte sie auf und setzte sie unterschiedlichen, teils natürlichen, teils künstlichen Umweltbedingungen aus. Die Details dieser Versuche und die Resultate kann man in seiner Arbeit aus dem Jahr 2001 nachlesen: Longest insect dormancy: Yucca moth larvae (Lepidoptera: Prodoxidae) metamorphose after 20, 25, and 30 years in diapause.
Es stellte sich heraus, daß offenbar die Intensität der Winterkälte der entscheidende Auslöser für die Verpuppung im folgenden Frühjahr ist. Waren die Winter zu mild, wie in vielen von Powells Wohnorten und Experimenten, dann blieben die Raupen im Vorpuppenstadium und schliefen ein weiteres Jahr ihren Schlaf der Gerechten. Wie sich zeigte, reagierten Raupen, die vier bis fünf Jahre lang konstant warm gehalten worden waren, dann auch auf weniger tiefe Wintertemperaturen mit Verpuppung und Schlupf. Insgesamt schienen die Raupen nach so langen Jahren ihre Ansprüche an die Winterhärte etwas zu senken, vielleicht damit sie überhaupt noch eine Chance auf ein Imaginalleben erhielten. Größere Gruppen schlüpften nach 20 Jahren (151 Falter) und nach 25 Jahren (125 Falter). Vor dem dreißigsten Winter zeigten Röntgenaufnahmen, daß nur noch wenige Raupen übrig waren und schließlich schlüpften 14 Falter nach 30 Jahren in Diapause (das heißt 30 Jahre ohne Nahrungsaufnahme!).

Bemerkenswert ist nicht nur die Länge der Dormanzzeit sondern auch der synchronisierte Schlupf. Das muß man erst mal schaffen: Nach über 10.000 Tagen Schlaf sich zu verpuppen und dann innerhalb weniger Tage gleichzeitig zu schlüpfen. Drei Jahrzehnte lang zielen und dann gemeinsam ins Schwarze treffen.

Literatur

Powell, J. A. (1989): Synchronized, mass-emergences of a yucca moth, Prodoxus y-inversus (Lepidoptera: Prodoxidae), after 16 and 17 years in diapause. – Oecologia, 81: 490-493.
Powell, J. A. (2001): Longest Insect Dormancy: Yucca Moth Larvae (Lepidoptera: Prodoxidae) Metamorphose after 20, 25, and 30 Years in Diapause. – Annals of the Entomological Society of America, 94 (5): 677-680.
Thoreau, H. D. (1854): Walden; or Life in the Woods. – Boston (Ticknor and Fields). 357 S.
Thoreau, H. D. (1905, 1922): Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Amerikanischen von Wilhelm Nobbe. – Jena (Eugen Diederichs). [es gibt noch zahlreiche weitere Übersetzungen]

[1] In den verschiedenen deutschen Übersetzungen ist dieser Satz oft unvollständig und verkürzt wiedergegeben, z.B. : „Wir alle haben die Geschichte von dem kräftigen, schönen Käfer gehört …“. Nichts von gone the rounds of New England. Aber so ist das mit Übersetzungen immer: Erst wenn man sie mit dem Original vergleicht, erkennt man, ob und wie zuverlässig sie sind.
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