Pinien und Kiefern

Zum einjährigen Jubiläum eines Wikipädie-Fehleintrags.

Der Schauspieler Kiefer Sutherland soll sich halb totgelacht haben, als ihm Fans einmal erklärten, welche Bedeutungen sein Vorname in deutscher Sprache hat. Aber immerhin wurde er informiert.

Dagegen scheinen bei uns Deutschsprachigen – sofern wir nicht Botaniker sind – immer noch große Verständnisschwierigkeiten zu bestehen, wenn es um die Pflanzengattung der Kiefern geht. Der botanische Gattungsname Pinus und der englische Gattungsname pine bezeichnen eine große Anzahl von Kiefernarten. Eine davon ist die Pinie, die auf botanisch Pinus pinea heißt und rund ums Mittelmeer herum verbreitet ist. Alle anderen Arten gehören zwar auch zu Pinus (Kiefer), sind aber keine pinea (Pinie).

Das englische Wort pine gibt besonders oft Anlaß zu Fehlübersetzungen ins Deutsche: Es wird häufig als „Pinie“ wiedergegeben. Vielleicht ist es der ähnliche Wortanfang, der die Deutschsprachigen hier fehlleitet (Stichwort: falscher Freund); wahrscheinlich spielt eine Kombination aus Unkenntnis der englischen und der eigenen Muttersprache und der Botanik eine Rolle. Jedenfalls findet man allenthalben, wo Leute unlektoriert[1] schreiben, insbesondere im Internet, Kiefern als „Pinien“ bezeichnet.

Junge Pinien an einem typischen Standort im Mittelmeerküstenbereich.

Ich weiß nicht, wer für die deutschen Namen der an Kiefern lebenden Prozessionsspinner-Arten verantwortlich ist, aber die gegenwärtige Praxis ist mißverständlich und unbefriedigend:

Thaumetopoea pinivora: „Kiefern-Prozessionsspinner“
lebt an Waldkiefer (Pinus sylvestris). Auf Anhieb habe ich keine weiteren Nahrungsangaben gefunden.

Thaumetopoea pityocampa: „Pinien-Prozessionsspinner“
lebt an Waldkiefer (Pinus sylvestris), Aleppokiefer (Pinus halepensis), Pinie (Pinus pinea), Seekiefer (Pinus pinaster), Schwarzkiefer (Pinus nigra), Korsischer Schwarzkiefer (Pinus nigra laricio) und an Lärche (Larix decidua), außerdem gelegentlich an fremdländischen (angepflanzten) Pinus-Arten und Himalayazeder (Cedrus deodera).

Die Art mit dem breiteren Nahrungsspektrum ist Th. pityocampa; wenn also eine der Arten nach der Gattung Kiefern benannt zu sein verdient, dann ist sie es. Logisch wäre

Thaumetopoea pinivora: „Waldkiefern-Prozessionsspinner“
Thaumetopoea pityocampa: „Kiefern-Prozessionsspinner“

Aber Logik spielt bei landessprachlichen Namen keine große Rolle. (Bei den wissenschaftlichen oftmals auch nicht, jaja, ich weiß.)

Die Engländer kennzeichnen mit ihren Namen „Pine Processionary“ für Th. pityocampa und „Eastern Pine Processionary“ für Th. pinivora die Verbreitungsschwerpunkte der beiden Arten. Man könnte sich also auch vorstellen

Thaumetopoea pinivora: „Östlicher Kiefern-Prozessionsspinner“
Thaumetopoea pityocampa: „Südlicher Kiefern-Prozessionsspinner“

Wikipedia beschreibt die Verbreitung von Thaumetopoea pinivora korrekt – nämlich unter Ausschluß von Italien; dort kommt die Art nicht vor. Aber dann folgt nur zwei Sätze danach dieser Text:

„Der Schriftsteller Robert Gernhardt beschreibt in seinen Brunnen-Heften eine Begegnung mit den Kiefern-Prozessionsspinnern im Jahre 1991 in seiner Wahlheimat Toscana/Italien.“

Robert Gernhardt ist dort natürlich den Raupen von Thaumetopoea pityocampa begegnet. Das Mißverständnis beruht sicherlich darauf, daß Gernhardt den deutschen Namen Kiefernprozessionsspinner verwendet oder vielleicht nur allgemein von Prozessionsspinnern an Kiefern gesprochen hat. Jedenfalls hat ein Wikipedianer am 28. Juni 2018 in Unkenntnis der Verbreitung und der Namenshistorie beider Arten diesen Satz bei der falschen Art eingefügt. Eine gebräuchliche Vorgehensweise in der Wikipädie: Man bringt eine Information in einen Artikel ein, ohne die vorherigen Sätze gelesen zu haben. Wikipedianer brauchen bekanntlich kein Fachwissen, denn sie schreiben ja alles aus Quellen ab – aber um diese Quellen richtig zu interpretieren, dafür ist manchmal doch ein wenig Wissen nötig.

Zum Wikipedia-Artikel

Gemäß der deutschsprachigen Wikipädie gibt es – wenn man in so manche Ortsartikel hineinliest – angeblich „Pinien“ in Nordamerika, in Korea, in China, in Papua-Neuguinea, auf den Philippinen, auf Mauritius und so weiter. Bis vor kurzem war die Liste noch viel länger, aber dann wurde eine – leider unvollständige – Bereinigung durchgeführt und die Problematik sogar im Artikel „Pinie“ kurz angesprochen. Die Korrekturen der Wikipedia-Fehler hinken den Artikeln meistens um Jahre hinterher.

Die wissenschaftlichen Namen der beiden Arten sind übrigens in ihrer Bedeutung fast identisch: pinivora = Kiefernfresser von lat. pinus und vorare fressen, pityocampa = Kiefernraupe von griech. pityon Kiefernwald und kampe Raupe. Der Name pityokampe wurde schon im Altertum benutzt – überliefert von Galen, Dioskurides und Plinius dem Älteren – hat also eine Tradition von mindestens 2000 Jahren. Und im Gegensatz zu vielen der klassischen Insektennamen, die wir nicht sicher identifizieren können, war hier immer die Art gemeint, die wir heute Thaumetopoea pityocampa nennen.


[1] Und auch in lektorierten Texten. Selbst renommierte Verlage knausern heutzutage besonders stark am Lektorat: Man merkt es an den immer zahlreicheren Sach- und Tippfehlern – von den stilistischen und grammatikalischen Klöpsen ganz abgesehen – in neueren Büchern.

Siehe auch
Der Kleine Feuerfalter, der Schlangenknöterich und die Wikipädie
Butterflies – Es gibt keine englischen Schmetterlinge
Die rechtsblockierte Hecatera dysodea – Wie eine Online-Enzyklopädie die Welt veräppelt

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Nomenklatur, Sprachliches abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..